„In Deutschland gibt es ein demokratisches Defizit“

Khaled ist Sozialarbeiter und ist 2015 aus Syrien geflüchtet. Insgesamt lebt er schon 17 Jahre in Deutschland – Wählen darf er trotzdem nicht. Im Interview erzählt er seine Geschichte und fordert, ein Mitspracherecht in der deutschen Politik zu erhalten.

Khaled ist Sozialarbeiter und kommt aus Damaskus, Syrien. Inzwischen ist der 39-Jährige seit 17 Jahren in Deutschland, allerdings mit Unterbrechungen. Er lebte 1989 kurz in Berlin, kam zum Studieren zwischen 2001 und 2008 wieder her und traf 2015 die Entscheidung, nach Deutschland zu flüchten. Khaled wohnt in Hamburg und arbeitet in der Kinder- und Jugendhilfe. Privat engagiert er sich u.A. in den Bereichen des Zusammenlebens, der Integration und gegen Rassismus.

 

Du kommst aus Damaskus, Syrien und bist später aus deiner Heimat geflüchtet. Wie war dein Leben dort?

Ich habe in Damaskus mein Abitur absolviert und ein Semester an der Universität Mathe studiert. 2001 bin ich dann aber nach Deutschland gekommen und habe einen Sprachkurs gemacht. Danach habe ich ein Pharmaziestudium an der Universität Münster aufgenommen, aber nicht abgeschlossen. Ich hatte mich in dieser Zeit mit anderen Dingen beschäftigt, Sport zum Beispiel.

2008 bin ich nach Katar gegangen, weil ich meinen Militärdienst leisten musste. Man kann zwar eine bestimmte Summe bezahlen, um sich davon abkaufen zu können, doch ich habe die Voraussetzungen dafür nicht erfüllen können. Ich bin dort also drei Jahre, bis 2011, geblieben und dann im Juli, als die Revolution angefangen hat, nach Syrien zurückgekommen. Ich dachte, dass die nicht lange anhält oder Assad bald zurücktritt. Dass es so eskaliert, hätte ich nie gedacht.

 

Wie ging es dann für dich weiter?

Ich bin bis 2013 geblieben. Dann habe ich eines Tages eine Explosion erlebt, ganz in meiner Nähe. Das war der Moment, in dem ich dachte, hier kann ich nicht bleiben und dann bin ich in die Türkei abgehauen. Dort habe ich zwei Jahren gearbeitet und bin dann nach Deutschland geflüchtet.

 

Wieso hast du dich damals entschieden, nochmal nach Deutschland zu kommen?

2015 habe ich die Entscheidung getroffen, nach Deutschland zu flüchten. Es gab mehrere Probleme wie zum Beispiel mit einer Studien- und Aubildungszulassung.

Du bist am 25. Juli in Deutschland angekommen. Doch der Weg war nicht so leicht. Möchtest du darüber mehr erzählen?

Ich hatte mich mit einer kleinen Gruppe getroffen, in der wir uns gemeinsam auf mögliche Notfälle vorbereitet haben. Wir haben uns auch die Route auf das Handy heruntergeladen, damit wir wissen, wo wir ungefähr sind. Und dann lief das eigentlich ganz gut. Wir haben ca. 20 Tage gebraucht. In Serbien hatten wir Schwierigkeiten, da hatten wir mehrmals Kontakt mit der Polizei. Sie wollten uns zurückschicken, aber meinten, dass wir etwas bezahlen können, um weiterzudürfen. Da haben wir die Polizei bestochen.

In Deutschland bin ich zuerst in Passau angekommen, also an der Grenze zu Österreich. Dann waren wir fünf Tage in München. Anfang August war ich in Hamburg.

 

Wie war es dann in Hamburg? Wo bist du untergekommen?

Irgendwann wurden wir von Harburg nach Veddel oder Wilhelmsburg gefahren und in einem Gymnasium untergebracht. Dort waren wir eine Woche und am 8. oder 9. August kam ich dann in die Messehallen.

 

Du warst nicht zum ersten Mal in Deutschland und sprichst sehr gut Deutsch. Damit konntest du vielen Geflüchteten helfen, hast ehrenamtlich gearbeitet. Was hast du genau gemacht?

Also ich kam nach Deutschland, um wieder Pharmazie zu studieren, weil ich das Studium beenden wollte. Doch in den Messehallen war ich der Einzige unter den 1.200 Menschen, der Deutsch gesprochen hat. Deshalb habe ich meine Hilfe angeboten, Geflüchtete und Ehrenamtliche zu begleiten und für sie zu übersetzen, falls irgendetwas ist. Am Anfang hat mir das Spaß gemacht, aber dann bin ich an meine Grenzen gekommen, weil ich nicht immer nur übersetzen wollte.

Damals war ich 35, wenn ich mein Pharmaziestudium wieder aufnehme, dauert das nochmal drei, vier Jahre. Darauf hatte ich keine Lust. Deshalb habe ich mir etwas gesucht, was für mich mehr Sinn ergab. Ich hatte 2016 angefangen, im Bereich Sprache und Integration zu arbeiten, doch gemerkt, dass ich mehr kann, als Übersetzen und Tipps geben. Deshalb habe ich dann Soziale Arbeit studiert.

 

Inwiefern war es anders für dich, zum zweiten Mal nach Deutschland zu kommen? Du konntest beispielsweise besser Deutsch sprechen, auf C1-Level.

Beim zweiten Mal kannte ich alles: Ich kann mich verständigen. Ich weiß, wo ich hingehe, wie ich mich in bestimmten Situationen verhalte, wenn ich angesprochen werde. Ich weiß, wie das Land funktioniert, weil ich hier studiert habe. Für viele, die jetzt erst kommen, ist es ein fremdes Land. Nehmen wir mal an, ich bin jemand aus Syrien und sehr gebildet. Wenn ich dann aber nach Deutschland komme und die Sprache nicht kann, bin ich sozial wieder ganz unten. Das Gefühl hatte ich aber nicht, weil ich Deutsch spreche und mich hier sofort behaupten konnte.

 

Wie war denn die Willkommenskultur?

Das hat mich überrascht, weil ich Deutschland von meinem ersten Aufenthalt anders in Erinnerung hatte. Damals hatte ich das Gefühl, ich muss hier schnell wieder weg und bin unerwünscht. Das kam zum Beispiel durch Prozesse in der Bürokratie wie der Verlängerung meines Aufenthaltstitels. Oder wenn man auf Sozialhilfe angewiesen war, dann konnte man nicht einfach zum Jobcenter gehen und alles wurde schnell geklärt. Das war sehr kompliziert.

2015 war das anders. Ich habe Einiges schon früh beantragt, weil ich ja wusste, wie es funktioniert. Ich habe schnell einen Deutschkurs bekommen und einen Job. Außerdem wurde die Dauer der Aufenthaltstitel verlängert. Als Student galt meiner damals nur sechs Monate, jetzt waren es gleich drei Jahre. Da hatte sich echt was verändert.

Ich war überrascht, wie offen und herzlich die Menschen waren. Da waren meine Erfahrungen auch anders. Früher waren einige so kalt und mir gegenüber verschlossen. Doch 2015 habe ich Menschen kennengelernt, die mir ihre Wohnung angeboten haben, um mal allein zu sein oder zu duschen. Da ist irgendetwas anders, da ist irgendwas passiert.

 

„Heute erlebe ich die Migrationspolitik eher so, dass so wenig Geflüchtete wie möglich bleiben sollen.“

 

Du hast gerade die Unterschiede von 2001 bis 2008 zu 2015 beschrieben. Wie nimmst du es heute wahr?

Wenn die Politik vorgibt, wie mit Geflüchteten umgegangen wird, dann kann die Willkommenskultur machen, was sie will. Wenn mein rechtlicher Rahmen nicht gegeben ist, dann ist es egal, wie sehr ich willkommen bin, ich kann nicht bleiben.

Angenommen, jemand kommt aus Afghanistan, einem Kriegsgebiet, und die Dokumente sind verloren gegangen. Dann bekommt man ein Schreiben, dass man sich die Dokumente besorgen muss. Sonst bearbeiten die Behörden den Fall nicht und die Person bekommt keine Unterstützung. Es gibt kein Geld und man erhält nur einen Duldungsstatus. Ich sehe das als Rückschritt zu 2015.

Damals war es so, dass so vielen Menschen wie möglich geholfen wurden, etwa durch Sprachkurse, damit sie in Deutschland Anschluss finden. Heute erlebe ich es eher so, dass so wenig wie möglich bleiben sollen. Auch diese ganze Debatte über die „deutsche Leitkultur“ ist heute viel größer als 2015 und auch Haltungen gegen Geflüchtete sind heute durch Soziale Medien wie Facebook, YouTube oder Twitter sichtbarer als noch 2001.

 

Du hast eben auf Schwierigkeiten hingewiesen, die unter anderem durch politische Entscheidungen entstanden sind. Ende September ist Bundestagswahl. Darfst du wählen und so deine eigene Zukunft hier in Deutschland mitgestalten?

Ich lebe inzwischen 17 Jahre in Deutschland, darf aber nicht wählen. Ich komme nicht aus Europa und bin kein Deutscher. Ich habe keinen deutschen Pass. Die Zeit zwischen meinen Aufenthalten in Deutschland war zu lang und deshalb wurde es mir nicht anerkannt.

Wie fühlt sich das für dich an, so lange in einem Land zu leben, das dir keine Stimme gibt?

Ich frage mich die ganze Zeit, wieso ich nicht wählen darf. Ich lebe hier. Jetzt durchgehend seit 2015. Seit 2016 arbeite ich Vollzeit und zahle Steuern, genau wie jede*r, die*der hier arbeitet. Ich darf aber nicht mitentscheiden, was ich will und was ich nicht will. Gleichzeitig frage ich mich, wie Freunde von mir, die hier nur Erasmus-Studierende sind, also nur sechs Monate hier sind, wählen können. Nicht auf Bundesebene, aber mit dem Europäischen Pass zumindest kommunal.

Aber ich, obwohl ich seit Jahren hier lebe, darf nicht kommunal bestimmen, wer mich vertritt. Da frage ich mich, wo das Problem liegt. Ich habe mich damit auseinandergesetzt und gelesen, dass man Angst hat, dass diese Menschen, wenn sie wählen, irgendwie das Wahlsystem unterwandern. Das sind Aussagen, die einfach nicht stimmen.

Die Kommunalwahl für Menschen zu öffnen, die seit einigen Jahren in dem jeweiligen Ort leben, wäre eigentlich ein ganz guter Anfang.

 

Würdest du das an bestimmte Bedingungen knüpfen, beispielsweise das Beherrschen der deutschen Sprache oder das aktive Einbringen in die Gesellschaft?

Diese Menschen sind Teil der Gesellschaft. Egal, wie gut sie die Sprache können oder das Land kennen, die Gesetze betreffen sie trotzdem. Das sind Sozialgesetze oder andere Gesetze, die den Aufenthalt in Deutschland regeln.

Laut Grundgesetz steht die Menschenwürde über allem, alle haben die gleichen Rechte und sind vor dem Gesetz gleich. Und so zahle ich Steuern oder müsste ins Gefängnis, wenn ich eine Straftat begehe. Mir geht es erstmal darum, Wählen gehen zu dürfen, nicht wählen zu gehen. Ich will das Recht haben. Das Recht steht mir zu. Das nimmt man mir weg.

Es gibt acht Millionen Menschen in Deutschland, die nicht wählen dürfen, obwohl sie hier leben. Das sind zehn Prozent der Bevölkerung. Ich nenne das ein demokratisches Defizit.

 

Du hast eine sehr klare Haltung zum Wahlrecht. Inwiefern setzt du dich denn trotzdem mit den Inhalten auseinander, etwa für die kommende Bundestagswahl?

Ich fühle mich von den Inhalten der Parteien nicht angesprochen. Es gibt wenig Themen, die mich zurzeit betreffen. Die CDU sagt, dass alle kriminellen Ausländer abgeschoben werden müssen. Ausländer bin ich zumindest.

Aber ich fühle mich von den Menschen auch nicht repräsentiert. Es gibt kaum Politiker*innen mit Migrationshintergrund, keine in der der Bundesregierung. Und so werden auch Themen wie ein Wahlrecht für in Deutschland lebende Ausländer weder von der SPD, den Grünen oder Linken beachtet. Wenn ich an einem Stand der Grünen vorbeigehen würde, dann würden die mich nicht ansprechen und um meine Stimme bitten. Die Politik beachtet nur Menschen, die deutsch gelesen werden. Es würde sich nichts verändern, selbst wenn ich einen deutschen Pass hätte. Ich wäre Deutscher, sehe aber nicht deutsch aus.

 

Hast du solche Erfahrungen schonmal gemacht?

Zurzeit gibt es überall Stände der Parteien. Ich habe es mal ausprobiert und bin zu einem SPD-Stand gegangen. Da habe ich gefragt, was sie für Migranten machen. Doch das war nicht ihr Thema und sie wollten sich die Zeit für die anderen Schwerpunkte nehmen.

Es gibt niemanden, der für mich einsteht. Von anderen Bürger*innen erwarte ich nicht, dass sie in meinem Interesse wählen und es gibt keine Politiker*innen, die mich verstehen würden.

 

Vorhin sprachst du von einem demokratischen Defizit. Meinst du, dass sich keine Partei wirklich für Migration interessiert?

Es gibt einen Fehler im System und das System muss geändert werden. Es gibt 16 Länder in Europa, wo man als Ausländer wählen darf, teilweise kommunal oder sogar auf Landesebene. Deutschland gehört nicht dazu. Weltweit sind es noch mehr. Neuseeland ist ein gutes Beispiel: Dort darf man nach einem Jahr national wählen, egal ob jemand dort geboren, aufgewachsen oder zugewandert ist. Solange Deutschland das nicht ändert, kann niemand behaupten, dass Migranten in diesem Land von der Politik beachtet werden.

In Syrien gibt es ein Sprichwort: „Wer auf mich mit einem Finger zeigt, zeigt auf sich mit drei Fingern.“ Wenn immer gesagt wird, Migration ist ein Problem, eine Gefahr, wird sich nichts verändern.

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Natalia ist in den Bereichen (Mode-)Journalismus und Medienkommunikation ausgebildet und hat einen Bachelor in Management und Kommunikation. Derzeit studiert sie Digitalen Journalismus im Master. Besonders gerne schreibt sie über (und mit!) Menschen, erzählt deren Lebensgeschichten und kommentiert gesellschaftliche Themen. Sie leitet die Redaktion und das Schreibtandem von kohero. „Ich arbeite bei kohero, weil ich es wichtig finde, dass die Geschichten von Geflüchteten erzählt werden – für mehr Toleranz und ein Miteinander auf Augenhöhe.“     (Bild: Tim Hoppe, HMS)

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