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3 Min. Lesezeit Kolumne

Die Kunst der Stereotype

In der Grundschule wird Linas Schüchternheit als Sprachbarriere ausgelegt – und sie in den Deutschförderunterricht geschickt. In dieser Ausgabe von „Salam und Privet“ schreibt sie über Stereotype in der Schule.

Die Kunst der Stereotype

Wer einen beliebigen Menschen nach Erinnerungen aus seiner Grundschulzeit fragt, der wird wahrscheinlich keine besonders tiefgehende Antwort bekommen. Womöglich kommen Erinnerungen an die ersten Freundschaften, an die leckere Käsebrezel im Pausenkiosk, oder die ersten erbitterten Versuche, die Absurdität der Mathematik zu begreifen, hoch.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich in der ersten Klasse auf Wunsch meiner damaligen Klassenlehrerin in den Deutschförderunterricht geschickt wurde. Dieser fand einmal die Woche mittwochmorgens, wenn alle anderen noch keinen Unterricht hatten, statt, und sollte Kindern aus „ausländischen Haushalten“ dabei helfen, besser und vor allem richtig Deutsch zu sprechen. Da ich mich im Unterricht nicht sonderlich aktiv beteiligte, ging meine Lehrerin konsequenterweise davon aus, dass dies an einer Sprachbarriere liegen müsse. Folglich entschied sie sich dafür, mir mit dem zusätzlichen Förderunterricht unter die Arme zu greifen, damit ich mich zukünftig in höherem Ausmaß beteiligen könne und meinen deutschen Mitschüler*innen nicht unterliege.

Der erste und letzte Tag im Deutschförderunterricht

Ich verfasse diesen Text zu einem Zeitpunkt, in dem mein Abitur schon gute drei Jahre zurückliegt und ich bereits ebenso lange studiere; und trotz dessen kann ich mich an meinen ersten (und einzigen) Tag im Förderunterricht erinnern, als wäre er erst gestern gewesen.

Außer mir befanden sich noch zwei andere Kinder im Förderunterricht – beide mit einer türkischen Migrationsgeschichte. Wir drei waren übrigens die einzigen drei „Ausländerinnen“ in der gesamten Klasse. Die zuständige Lehrkraft verteilte auf dem Boden verschiedene Nomen und die drei Artikel der, die, das. Die Aufgabe meiner Mitschülerinnen und mir bestand darin, die Nomen dem richtigen Artikel zuzuordnen.

Ohne damit prahlen zu wollen, ging mir diese Aufgabe wie ein Kinderspiel von der Hand, sodass die Lehrkraft zum Entschluss kam, dass ich im Förderunterricht nicht richtig aufgehoben sei. Meine Sonderstunden endeten damit direkt nach dem ersten Besuch, was zur Folge hatte, dass meine Klassenlehrerin ernüchternder Weise feststellen musste, dass meine Zurückhaltung während des Unterrichts einzig und allein auf meine schüchterne Art zurückzuführen war.

Auf diesen Gedanken kam sie augenscheinlich trotz ihrer pädagogischen Ausbildung nicht. Möglicherweise lag dies daran, dass zu damaligen Zeiten Kinder mit Migrationsgeschichte in deutschen Schulen eine Ausnahme darstellten und die Lehrkräfte oft nicht wirklich wussten, wie in solchen Fällen mit vermeintlichen sprachlichen oder kulturellen Barrieren umzugehen ist. Ich dachte mir jedenfalls nicht viel dabei, denn ich war ja noch ein Kind.

Meine Mutter hingegen empfand das Verhalten der Klassenlehrerin als diskriminierend und vorurteilsbehaftet. Bei deutschen Kindern, so sagte sie, welche einen langsameren Lernfortschritt als der Rest der Klasse zeigten, ginge es immer direkt um Lese- oder Rechtschreibschwächen; dies sei eine Erklärung, welche bei Kindern mit Migrationsgeschichte nicht einmal als Möglichkeit bedacht werde. Man wolle es sich eben einfach machen – und am einfachsten ist es, in den eigenen, fest verankerten Denkmustern zu verharren.

Plötzlich Klassenbeste

Ironischerweise gehörte ich nach der ersten Klasse, als dann auch endlich meine Sozialkompetenzen etwas auftauten, schnell zu den Klassenbesten. Nach der Grundschule ging ich an ein Gymnasium und legte dort ohne besondere Mühe ein gutes Einser-Abitur hin. In meinem Deutschleistungskurs stammten die besten Klausuren nahezu immer aus meiner Feder und auch in der Abiturprüfung legte ich gemeinsam mit einer weiteren Mitschülerin die beste Note hin. Auch heute, in meinem Jurastudium, habe ich große Freude daran, lange und ausführliche Rechtsgutachten mit sprachlichen Spielereien zu verfassen. Nicht um es jemandem zu beweisen, sondern weil ich schon von klein auf das Schreiben geliebt habe.

Meine ehemalige Klassenlehrerin, welche erschüttert feststellen musste, dass es auch „ausländische“ Kinder gibt, welche von Haus aus einwandfreies Deutsch sprechen, würde heute bestimmt sagen, dass meine besondere sprachliche Affinität aus ihren Bemühungen herrühre. Dass diese These falsch ist, ist mittlerweile wohl offensichtlich; nichtsdestotrotz nehme ich es ihr nicht übel, denn jede*r kann sich mal irren. Und auch wenn es durchaus Kinder geben mag, welche in ihrer Schulzeit mit sprachlichen Herausforderungen kämpfen, so kann und sollte man sich die Zeit dafür nehmen, diesen Problemen vernünftig auf den Grund zu gehen. Pauschale Stereotype haben selten jemandem geholfen – und in einer Schule, als Ort der Bildung, nichts verloren.

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