Auseinanderdriftende Welten

Valeria ist vor ungefähr fünfzehn Jahre zusammen mit ihrem Bruder, ihrer Mutter und ihrem Stiefvater, nach Deutschland migriert. Ihr Vater und ihre erweiterte Familie leben in Ecuador. Den Kontakt aufrecht zu halten war immer schon schwierig. Skypen und Whatsapp Anrufe gehören zum Alltag, aber manchmal braucht es mehr als eine App, um Nähe und Liebe zu nähren

Während ich mir unbequem mein Handy vors Gesicht hielt, schaute ich meine Großmutter an, die auf ihrer Veranda auf der anderen Seite des Planeten saß. Sie trug einen Hut und die Farben ihrer geblümten Bluse wirkten blass unter der Sonne. Ihre opulente Sonnenbrille bedeckte ihre Augen, und das Lächeln, das ich aus Millionen von Skype-Gesprächen kannte, fühlte sich falsch an. Es war Muttertag, und meine Mutter verbrachte ihren in Bonn bei meinem Stiefvater – weit weg von meiner Großmutter, die in Quito (Ecuador) lebt.

Gespräch mit der Großmutter

Meine Großmutter fragte mich, wie es mir gehe. Ich muss schrecklich ausgesehen haben, denn eine Stunde nach unserem Gespräch schrieb sie, voller Sorge um meine psychische Gesundheit, mit meiner Mutter. Sie erinnerte sich an eine fröhlichere Version ihrer Enkelin. Aber anstatt ihre Bedenken während unseres Gesprächs zu äußern, lobte sie meinen neuen Haarschnitt. In letzter Zeit ist es schwierig, die Kommunikation am Leben zu halten. Noch schwieriger ist es, ehrlich zu bleiben. Die Technologien, die unsere Beziehungen am Leben erhalten sollten, ließen uns im Stich. Als ich einen Blick auf meinen Großvater, meine Tante, meinen Onkel und meine Cousine erhaschte, die an diesem sonnigen Tag an unserer Skype-Sitzung teilnahmen, sehnte ich mich nach ihrer Anwesenheit und der Vertrautheit, die einmal zwischen uns herrschte.

Unausgesprochene Wahrheiten

Seit Covid-19 zur globalen Pandemie erklärt wurde, driftet unsere Familie auseinander. Am Anfang haben wir versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Mein Bruder und ich nahmen in den ersten Monaten an mehreren Skype- und Zoom-Sitzungen teil und organisierten Treffen mit unserer in Ecuador lebenden Verwandtschaft. Damit wollten wir uns zumindest moralisch gegenseitig unterstützen. Doch die Disparität zwischen unseren Realitäten wurde immer größer. Es blieben zu viele Dinge unausgesprochen.

Die wirtschaftliche Lage in beiden Ländern hat sich verschlechtert, doch wir haben nie darüber gesprochen. Ich erfuhr nicht, ob jemand seinen Job verlor oder finanzielle Probleme hatte. Bis heute ist es mir ein Rätsel, was genau für Schwierigkeiten meine Familie in Quito durchmacht. Das liegt nicht nur daran, dass das Reden über Finanzen in unserer Familie so ein Tabuthema ist, sondern auch, dass ich zu viel Angst hatte, nachzufragen. In den ersten Monaten war ich zu sehr damit beschäftigt, mich selbst über Wasser zu halten. Ich schaffte es nicht, die Kraft aufzubringen, mich mit dem Leben, meiner Familie zu beschäftigen – so wie ich es eigentlich gerne getan hätte.

Dieses Gefühl stieß in meinem sozialen Netzwerk auf große Resonanz. Besonders Freunde und Arbeitskollegen mit im Ausland lebenden Familienmitgliedern konnten meine Verzweiflung nachvollziehen. Ein wachsendes Gefühl der emotionalen Entfernung, die schlichtweg notwendig ist, um die eigenen Kräfte zu bewahren und im Hier und Jetzt funktionieren zu können.

Vor allem das gute Verhältnis, das ich zur Familie meiner Mutter pflegte, begann langsam an zu bröckeln.

Das Virus wurde zum Hauptthema

Unsere Gespräche konzentrierten sich stark auf das Thema Corona. Wir diskutierten über das, was wir wussten, was wir spekulierten und, was wir darüber dachten. Es dauerte nicht lange, bis diese Gespräche einen düsteren und feindlichen Ton annahmen. Aus Gründen, die ich bis heute nicht verstehe, ist mein Onkel auf die Seite der Corona-Leugner gewandert und ist seitdem nicht mehr zurückgekommen. Ich hätte mehr Fragen stellen sollen; ich wusste, dass er Schwierigkeiten bei der Arbeit hatte. Stattdessen diskutierten wir endlos über die Informationen, die wir im Internet fanden und, ob sie sich impfen lassen würden oder nicht. Das Schwierigste war zu sehen, wie dieser Onkel, den ich früher bewunderte und liebte, sich in eine Person verwandelte, die ich nicht mehr wiedererkennen konnte.

Als wir an diesem Muttertag sprachen, fühlten sie sich alle so weit weg an. Mein Onkel, der ebenfalls eine Sonnenbrille trug, begrüßte mich mit seinem üblichen „que fue?“ (Alles klar?) und für eine Sekunde war alles wieder gut. Der Klang seiner Stimme brachte so viele gute Erinnerungen zurück. Meine träumerische Blase platzte, als er sich beeilte, das Telefon an meine Tante zu reichen, ohne auf meine Antwort zu warten. Er war weg bevor ich ohne Überzeugung „Mir geht es gut…“ antworten konnte. In diesem Moment fragte ich mich, ob unsere Beziehung jemals wieder so sein würde, wie sie einmal war. Ob wir wohl jemals Gespräche über etwas anderes als die Meinungen, die uns voneinander trennen, führen würden?

Zeit, Abschied zu nehmen

Nachdem das Telefon die obligatorische Runde um alle Anwesenden gemacht hatte, kam meine Großmutter, um sich ein letztes Mal zu verabschieden. „Meine Kleine, wir müssen gehen. Das Essen ist fertig. Dein Onkel hat Paella gemacht! Ich bin so froh, dass er hier ist. Das ist so ein wundervoller Tag!“ So sehr ich ihr auch glauben wollte, ich konnte die dunklen Wolken am Himmel hinter meiner Oma aufziehen sehen.

Ich fragte mich, was mit meinen Großeltern los ist, ob mein Großvater noch krankenversichert ist, oder ob meine Tante noch arbeitet. Wie würde meine Cousine ihr erstes Semester an der Universität finanzieren? Statt dieser kurzlebigen Illusion eines glücklichen Skype-Moments, sehnte ich mich nach mehr Zeit. Nach Stunden und Stunden, um ihren Problemen, dem Schmerz und den unbequemen Wahrheiten zuzuhören, über die wir nie sprechen. Aber es war Zeit, Abschied zu nehmen. Ich winkte in die Kamera und lächelte voller Bedauern.

Ehrlichkeit ist nicht einfach, aber notwendig

Wenn ich auf die Gefühle zurückblicke, die mich nach diesem Gespräch überwältigten, komme ich zu dem Schluss, dass jede Unterstützung, die ich geben kann, nur dann ankommt, wenn alle Beteiligten bereit sind, verletzlich zu sein und ihre Sorgen zu teilen. Um Gespräche zu führen, die über oberflächliche Höflichkeit hinausgehen, muss ich mich anstrengen und mir die Zeit nehmen. Ehrlichkeit erfordert, dass auch ich offen erzähle, wie es mir geht, anstatt zu sagen, was meiner Familie meiner Meinung nach hören möchte. Ich muss darauf vertrauen, dass es auf der anderen Seite des Gesprächs Menschen gibt, die mich lieben. Vielleicht sind sie bereit sich verletzlich zu zeigen, haben aber auch damit Schwierigkeiten. Zum heutigen Zeitpunkt, hoffe ich nicht nur auf einen Impfstoff, um die Pandemie zu beenden. Ich hoffe auf einen Weg zurück zu meiner Familie und dass wir uns wieder näher sind. Ob persönlich oder per Skype.

 

Diese Text wird mit unterstützung von  Anna Hollandt in Projekt  Schreibtandem geschrieben und wurde erster auf Englisch veröffentlicht.

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Kategorie & Format
Autorengruppe
Valeria kommt aus Ecuador und wohnt in Hamburg. Sie ist Kriminologin und arbeitet zurzeit als Sozialpädagogin in der Drogenhilfe. Das Schreiben ist für sie sowohl ein Rückzugsort, als auch ein Weg ihre Erlebnisse als Migrantin in Deutschland aufzuzeichnen. „Ich habe lange nach einer Plattform wie Kohero gesucht, für die keine Geschichte zu unwichtig ist und BIPoC Stimmen Gehör finden können. Die Erfahrungen im Schreibtandem und die Unterstützung meiner Tandempartnerin haben mich dazu ermutigt weiter zu schreiben.“

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