Acht Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine, am 04. März 2022, beschloss der Rat der Europäischen Union von der Richtlinie Gebrauch zu machen. Die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie, eine unbürokratische und schnelle Option, bietet Geflüchteten einen vorübergehenden Schutz.
Die Europäische Gemeinschaft hatte sie 2001 als Reaktion auf die Kriege im ehemaligen Jugoslawien ins Leben gerufen. Sie definiert Mindestnormen in Bezug auf die Gewährung des temporären Schutzes und reguliert die Verteilung der Betroffenen auf die Mitgliedstaaten der EU. Die humanitäre Aufenthaltserlaubnis ergänzt die Schutzform des Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention und den subsidiären Schutz. Erteilt wird sie für ein bis maximal drei Jahre. Während dieser Zeit erhalten Schutzsuchende eine Arbeitserlaubnis, sie können ein Studium aufnehmen oder fortsetzen. Kinder und Jugendliche können die Schule besuchen.
Anspruch auf höhere Sozialleistungen
Ukrainische Geflüchtete fallen nicht unter das Asylbewerberleistungsgesetz, sondern haben einen Anspruch auf höhere Sozialleistungen: Arbeitslosengeld, Krankenversicherung und Kindergeld beispielsweise. Ihren Aufenthaltsort können sie frei wählen: Europaweit, da sie nicht dem Dublin-Verfahren unterliegen, innerhalb Deutschlands, da sie nicht verpflichtet sind, in Erstaufnahmeeinrichtungen unterzukommen.
Kritik an Ungleichbehandlung
Sämtliche rechtliche Neuerungen und Zuwendungen im Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine offenbaren, in welchem Ausmaß Unterstützung möglich ist, wenn der politische Wille vorhanden ist. Trotz der deutlichen Rückendeckung der beschriebenen Maßnahmen innerhalb der Gesellschaft werden immer mehr Stimmen laut, die Kritik an der Ungleichbehandlung Geflüchteter aufgrund ihrer Herkunftsländer üben. Die Priorisierung und Besserstellung von Schutzsuchenden aus den ukrainischen Kriegsgebieten gegenüber denjenigen, die sich teilweise schon seit Jahren in Deutschland aufhalten und auf eine leichtere und bessere Teilhabe hoffen, stößt bei Betroffenen und Organisationen, die in der Geflüchtetenhilfe tätig sind, auf Unverständnis.
Warum erst jetzt?
Die Massenzustrom-Richtlinie kann seit über zwanzig Jahren aktiviert werden. Insbesondere 2015 wurde ihr Einsatz für Geflüchtete aus Syrien diskutiert – doch Mehrheiten fanden sich dafür in der EU damals nicht. Das lag unter anderem daran, dass die Mitgliedstaaten sich nicht auf einen Verteilungsmechanismus einigen konnten. Außerdem bestand die Sorge, die Aktivierung der Richtlinie könne einen Pull-Faktor darstellen.
Besonders anschaulich wird dieses Missverhältnis an den europäischen Außengrenzen. Während seit 2015 die Abschottungs- und Abschreckungspolitik immer weiter vorangetrieben wurde, ist die Aufnahmebereitschaft an den osteuropäischen Grenzen für Flüchtende mit ukrainischem Pass groß. Der Kontrast zwischen der enormen Hilfsbereitschaft und Anteilnahme einerseits, und illegalen Pushbacks und den fatalen Bedingungen in Geflüchtetencamps andererseits, drängt die Frage auf: Gibt es Menschenleben, das schützenswerter ist als anderes?