Im Mai 2023 finden nach fünf Jahren wieder die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei statt. Diese werden vor allem im Lichte – oder besser Schatten – der Erdbeben der vergangenen Wochen stehen. Das Erdbeben mit der Stärke 7,8 sowie die Nachbeben betrafen neben der Türkei auch Syrien und kosteten bisher etwa 50.000 Menschen das Leben. Historische Städte wie Antakya wurden nahezu ausgelöscht.
Die Politisierung des Erdbebens
Während einige von einem tragischen Schicksal sprechen, nehmen andere auch die Politik in die Verantwortung. So kritisieren viele in den Sozialen Medien beispielsweise, dass die nach dem Erdbeben von Izmit im Jahre 1999 eingeführte Erdbebensteuer nicht an den richtigen Stellen ankam, da in den erdbebengefährdeten Regionen nach wie vor mangelhaft gebaut wurde. Auf Videoaufnahmen ist zu erkennen, dass ein Großteil der Gebäude wie Kartenhäuser in sich zusammenfiel. Das Erdbeben hat die türkische Gesellschaft traumatisiert. Dieses Trauma wird sich auch auf die Wahlen abfärben, da sind sich viele sicher.
Deutschland als wichtiger Wahlkreis
Wie bei allen Wahlen in der Türkei spielen die türkischen[1] Wähler*innen in Deutschland auch bei dieser Wahl eine große Rolle. In Deutschland leben etwa 1,5 Millionen Menschen, die die türkische Staatsbürgerschaft besitzen und dementsprechend, sofern sie mindestens 18 Jahre alt sind, wahlberechtigt sind. Damit machen jene Wähler*innen einen umfassenden und relevanten Wahlkreis für die türkischen Politiker*innen aus.
Dass die Wahlbeteiligung dieser Wähler*innengruppe nicht unerheblich ist, hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, so beispielsweise bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Jahre 2018. Dort stimmten 64,8 Prozent der in Deutschland lebenden Wähler*innen für die Regierungspartei AKP und den Präsidenten Erdoğan ab, während sich das Ergebnis in der Türkei auf 52,6 Prozent belief. Damit lag die Zustimmung der Wähler*innen in Deutschland für den Regierungskurs mehr als zehn Prozent höher als die der Wähler*innen in der Türkei.
Kritik der Union und das Festhalten am türkischen Pass
Darüber zeigten sich viele Politiker*innen in Deutschland bestürzt. Insbesondere Unionspolitiker*innen betonten einerseits, dass sich an diesem Wahlergebnis die gescheiterte Integration eines Großteils der türkeistämmigen Menschen in Deutschland ableiten ließe, und führten dies andererseits als Argument an, um sich nochmals vehement gegen die doppelte Staatsbürgerschaft auszusprechen.
Wie sich an der Kritik der Union andeutet, ist das Wahlverhalten der Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft in Deutschland seit jeher ein kontrovers diskutiertes Thema. Auch in der Türkei wurde insbesondere von Oppositionellen in der Vergangenheit immer wieder Kritik dagegen laut, dass Menschen, die in Deutschland leben, die Wahl mitbeeinflussen können, obwohl sie mit den politischen Entscheidungen im Alltag nicht leben müssen. Dieses Argument ist tatsächlich schwierig zu entkräften, weil es einen wahren Kern hat.
Letztlich wird dadurch aber auch deutlich, dass es sich bei Staatsbürgerschaft um ein Thema handelt, welches nicht allein auf sachlicher Ebene zu verstehen ist. Es gibt zahlreiche Gründe, warum Menschen an ihrem Pass festhalten, manchmal pragmatischer Natur, manchmal emotionaler. Dann gibt es auch noch die Personen, die sich gar nicht entscheiden müssen, weil sie ohnehin neben der türkischen Staatsbürgerschaft auch die deutsche besitzen.
Menschen mit der türkischen und deutschen Staatsbürgerschaft
Von den ca. 1,5 Millionen Menschen mit türkischem Pass besitzen in Deutschland ca. 300.000, also weniger als ein Fünftel, auch den deutschen Pass. Ihnen wird damit unter anderem das Privileg zuteil, sowohl in Deutschland als auch in der Türkei wählen zu können.
Insbesondere jene Menschen mit der Doppelstaatsbürgerschaft sind der CDU/CSU seit jeher ein Dorn im Auge. Sie plädierten immer wieder dafür, die doppelte Staatsbürgerschaft abzuschaffen und betrachten jegliche Reformen zugunsten einer Erweiterung dieser als kritisch. Damit verbunden ist die Forderung, dass sich die Menschen gefälligst für einen Pass, und damit auch ein Land, entscheiden sollen.
Gesetzeslage
Die Gesetzeslage hat sich in den vergangenen Jahren zum Leidwesen der Union stets zugunsten einer Erweiterung der Doppelstaatlichkeit entwickelt. So galt zunächst, dass Menschen, die die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, dafür die andere Staatsbürgerschaft abgeben müssen.
Als Ausnahme galten seit jeher Kinder, die sowohl einen deutschen als auch einen ausländischen, in diesem Falle türkischen, Elternteil haben. Diesen standen per Geburtsrecht beide Staatsbürgerschaften zu. Seit Ende 2014 gilt dies auch für Kinder ausländischer Eltern, welche seit mindestens acht Jahren in Deutschland leben. Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts könnte Doppelstaatsbürgerschaften noch gängiger machen.
Heterogene Identitäten der türkeistämmigen Menschen in Deutschland
Wie bereits angedeutet, gibt es zahlreiche unterschiedliche Gründe, warum Menschen an ihrem türkischen Pass festhalten. Manchmal sind es emotionale Beweggründe, weil der Pass mit Identität verknüpft wird und die Sehnsucht auf ein Leben in der Türkei widerspiegelt. Mal sind es finanzielle und bürokratische Hürden, die Menschen davon abhalten, den türkischen Pass gegen den deutschen einzutauschen.
Die vielfältigen Perspektiven spiegeln die Vielfalt der türkeistämmigen Diaspora wider, welche sich, wie alle (post)migrantischen Communitys, nicht in eine Schublade stecken lässt. Für viele türkeistämmige Menschen ist die Türkei ein Ort, mit dem sie ganz Unterschiedliches verbinden. Türkeistämmige Menschen sind dabei nicht nur Türk*innen, sondern auch Kurd*innen, Jesid*innen, Griech*innen, Armenier*innen etc., die auch nicht immer (nur) Positives mit der Türkei verbinden. Auch wenn viele Menschen dieser Diaspora das Gefühl kennen, sowohl in Deutschland als auch in der Türkei als anders wahrgenommen zu werden, fühlen sie sich oftmals beiden Ländern verbunden.
Doppelte Verbundenheit oder zwiegespalten?
Aus Perspektive einer Person mit türkischer Mutter, deutschem Vater und der doppelten Staatsbürgerschaft kann ich für meinen Teil sagen, dass Verbundenheit und das Zwiegespalten-Sein oftmals Hand in Hand gehen. Die Identitätsfindung und die Suche nach einem Zugehörigkeitsgefühl fangen oft in den eigenen vier Wänden an.
Es gab Phasen in meinem Leben, in denen ich mich eher „deutsch“ gefühlt habe und Phasen, in denen ich mich eher „türkisch“ gefühlt habe – oft auch sehr abhängig davon, in welchem Umfeld ich mich bewegt habe und welche Erwartungen dabei an mich gestellt wurden. Lange hatte ich eine romantisierende Vorstellung der Türkei als das Land, das ich mit meiner Familie in den Sommerferien bereist habe. Die Türkei war für mich vor allem das kleine Städtchen an der Ägäisküste, in dem ich zahlreiche Sommer in der Kindheit und Jugend verbracht hatte. Jedes Jahr zählte ich die Tage bis zu den Sommerferien.
Eine politische Stimme
Auch wenn ich heute an die Türkei denke, ist für mich oft das erste Bild, das mir in den Kopf schießt, mein Opa, der um 2 Uhr nachts auf der Veranda des Sommerhauses sitzt und uns nach einer 30-stündigen Autofahrt in die Arme schließt. Ich habe eine sehr emotionale Bindung an die Türkei, weil es das Land ist, in dem meine Mutter ihre Kindheit und Jugend verbracht hat. All die herzergreifenden und skurrilen Geschichten ihrer Studienzeit spielen sich in Istanbul und nicht in Köln ab.
Ich weiß, dass ein Pass nicht wichtig dafür ist, mein Zugehörigkeitsgefühl auszudrücken, aber er ist wichtig dafür, mir eine politische Stimme zu geben. Es ist ein Privileg, dass ich mit den politischen Entscheidungen nicht leben muss, aber ich bin sehr dankbar dafür, diese leise Stimme haben zu können. Denn mir ist nicht egal, was in der Türkei passiert. Mir ist auch nicht egal ist, was in Deutschland passiert. Ich werde mich immer zwischen der Türkei und Deutschland bewegen – irgendwo in der Mitte, mal mehr hier, mal mehr da – ohne mich endgültig festzulegen. Meine Pässe spiegeln dies wider.
[1] „Türkisch“ bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht auf die Ethnizität bzw. Nationalität, sondern Staatsbürgerschaft.
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