Obwohl Syrien noch erschöpft und verletzt von zwölf Jahren Krieg ist. Obwohl mehr als 500.000 Syrerinnen und Syrer in diesen Kriegsjahren ihr Leben verloren haben. Obwohl Syrien im Jahr 2023 kaum mehr als ein gescheiterter Narco-Staat ist. Obwohl Syrien von den meisten Medien, in Deutschland und der ganzen Welt, seit einiger Zeit vergessen wurde. Jetzt wurde Syrien auch noch von diesem Erdbeben erschüttert.
Es hat den Nordwesten von Syrien getroffen. Das Beben wurde bis Korsika und Libanon gefühlt. Es folgten hunderte Nachbeben. Die Zahl der Verstorbenen ist noch unklar, am 10. Februar wurden aus der Türkei mindestens 18.000 tote Menschen gemeldet. In Syrien wurden 3.300 Tote gemeldet, allerdings ist die Lage unüberschaubar, wegen der unterschiedlichen Zuständigkeiten im Land.
In allen betroffenen Regionen beider Länder sind Gebäude und Wohnhäuser eingestürzt, zum Beispiel sollen in der türkischen Großstadt Gaziantep knapp 1.000 Gebäude zerstört worden sein. Wie viele Menschen verletzt sind oder noch unter den Trümmern gerettet werden müssen, ist unklar. Die gestörte Wasser- und Stromversorgung, die aufgeplatzten Autobahnen und das kalte Wetter machen die Rettungsarbeit noch schwieriger.
Die Reaktion der syrischen Exil-Community
Es ist eine Katastrophe, eine Hölle für die Menschen, die unter den Trümmern der Häuser verschüttet sind, oder die in der Kälte auf Hilfe hoffen. Das Ausmaß und das Leid sind ein Schock. Als ich mit diesen schrecklichen Nachrichten am Montagmorgen aufgewacht bin, war für mich, wie für viele andere, am wichtigsten nach meiner Familie und Bekannten zu fragen.
Meine nächste Reaktion war, auf Facebook zu gucken, wie mein soziales Umfeld reagiert. Wie ich schon öfters beschrieben habe, spielt Facebook weiterhin eine große Rolle für die syrische Exil-Community. Und so habe ich auch am Montag gesehen, wie Menschen, die hier oder anderswo im Exil leben, nach ihren Freund*innen und Familienmitgliedern in der Türkei oder in Syrien suchen. Menschen fragen, wer jemanden vor Ort kennt, damit ein Kontakt zu der eigenen Familie hergestellt werden kann. Andere Menschen teilen die Rufe nach Hilfe, die die verschütteten oder verlorenen Menschen auf Facebook posten. Es zeigt mir, dass, auch wenn man physisch weit weg von dem Erdbeben lebt, man versucht, die Hoffnung auf Hilfe zu verbreiten und verstärken.
Solidarität trotz und wegen großen Leids
In den folgenden Tagen kamen dann immer mehr Bilder und Videos. Ich habe vor allem die aus Syrien mitbekommen, wie etwa das Bild von zwei Kindern, die noch unter Trümmerteilen gefangen sind, aber für die Kamera der Helfer lächeln. Oder ein Bild eines neugeborenen Babys, das inmitten der Zerstörung und der Trümmer geboren wurde. Die Mutter, aus der syrischen Stadt Deir-Ezzor, hat das Erdbeben nicht überlebt, ihr Säugling schon.
Es gibt noch so viele weitere Geschichten, Bilder und Videos, von Menschen, die unfassbares Leid erleben, oder ihr Leben in dieser Katastrophe verlieren mussten. Die Situation entwickelt sich schnell weiter. Und gleichzeitig wollen so viele Menschen auf der ganzen Welt helfen. Es gibt überall online Aufrufe für Kleiderspenden, Sachspenden, Transporte. Sowohl in die Türkei und nach Syrien. Über die sozialen Medien habe ich vor allem die Aufrufe der syrischen Organisation Molham Volunteering Team gesehen. Der Verein, der auch in Deutschland aktiv ist und der vor allem von jungen Syrer*innen im Exil unterstützt wird, konnte fast 3 Millionen Dollar Spenden einsammeln.
Ich habe auch Anzeichen dafür gesehen, dass diese Katastrophe eine Solidarität unter vielen Syrer*innen (im Exil und im Land selbst) aufgebaut hat. Denn es gibt zu viele Menschen, die alles verloren haben. Menschen, die zum zweiten oder dritten Mal alles verloren haben. Dabei ist es nicht von größter Bedeutung, ob jemand aus Aleppo, Idlib, Jabla oder Afrin kommt.
So denken und fühlen viele Menschen, die helfen möchten. Auch ich teile diese Gedanken und möchte allen, die von dieser Katastrophe betroffen sind, mein Beileid und mein Mitgefühl mitteilen. Mögen die Verstorbenen in Frieden ruhen und alle, die Hilfe benötigen, diese so schnell wie nur möglich bekommen.
Die Logik der Machthaber
Leider folgt die Politik in Syrien einer anderen Logik. Der syrische Machthaber Assad und seine Regierung versuchen, die aktuelle Lage für ihre politischen und wirtschaftlichen Ziele zu benutzen. Sie bestrafen die leidenden Menschen noch weiter, indem sie Hilfe verwehren, und dann verbreiten sie das Narrativ, dass alle anderen Länder die Schuld tragen, da sie die Hilfe blockierten.
Buthaina Shaaban, eine Beraterin des syrischen Präsidenten, sagte BBC Arabic, dass die Sanktionen Damaskus daran hinderten, die benötigte Hilfe zu erhalten. Sie sagte: „Wir haben nicht genug Bulldozer. Wir haben nicht genug Kräne. Wir haben wegen europäischer und amerikanischer Sanktionen nicht genug Öl.“
Einerseits stimmt das, es fehlt seit vielen Monaten im Land Öl und Benzin. So wie auch alles andere fehlt. Syrer*innen aus dem Exil können keine direkten Geldüberweisungen an ihre Familienmitglieder im Land durchführen, obwohl viele Familien von diesen Unterstützungen aus dem Ausland leben. Geld aus Europa oder Nordamerika kommt meistens nur über einen undurchsichtigen Schwarzmarkt, oder über Umwege über die Türkei oder Libanon nach Syrien. Das ist wohl das einzige, was die syrische Wirtschaft noch etwas am Leben hält. Aktuelle Schätzungen zeigen, dass 90% der Syrer*innen unter der Armutsgrenze leben müssen.
Aber wie immer in Syrien, ist die Lage komplizierter als das, was die Regierung zeigen möchte.
Geschlossene Grenzübergänge
Wenn wir nur über die Erdbebenkatastrophe sprechen, dann fangen wir damit an, dass Millionen von Menschen im betroffenen Nordwesten von Syrien keine Hilfe vom syrischen Staat erwarten können. Denn die Gebiete, in denen sie leben, wurden nicht von Assad nach dem Krieg zurückgewonnen. Die hart getroffene Region Idlib, in der die allermeisten Binnenflüchtlinge und Vertriebene des Krieges leben, gehört auch dazu.
Die syrische Regierung erlaubt keinen Zugang zu diesen Gebieten, also müssen die Menschen sich auf Hilfslieferungen verlassen, die über die türkisch-syrische Grenze kommen können. Allerdings ist aktuell nur einer von ehemals vier Grenzübergängen offiziell nutzbar. Das war auch schon vor der aktuellen Katastrophe ein Problem. Russland hatte zuletzt im Juli 2022 im UN-Sicherheitsrat sein Vetorecht genutzt, um eine Öffnung des Grenzübergangs für länger als sechs Monate zu verhindern.
Auch im Rest des Landes ist die Situation für Hilfesuchende kompliziert. Denn es fließen Hilfsgelder nach Syrien, vor allem über die UN. Wegen der aktuellen Katastrophe sagte am Mittwoch die Bundesregierung weitere 26 Millionen Euro für Syrien zu, wovon 25 Millionen für zwei Hilfsfonds der UN sind. Aber auch wenn die UN und weitere Hilfsorganisationen im Land aktiv sind, müssen sie alles mit der Zustimmung der Assad Regierung tun. Dieselbe Regierung, die die vergangenen zwölf Jahre Leid und Schrecken über das Land gebracht hat. Es gibt immer wieder Gerüchte, dass viel von den Hilfsgeldern, die die UN verwaltet, direkt oder indirekt der Assad Familie und ihren loyalen Leuten hilft.
Hoffnung kann aus Schmerz entstehen
Ich verstehe diesen notwendigen Kompromiss der UN, aber das bedeutet nicht, dass die Syrer*innen im Land wirklich ausreichend Hilfe bekommen. So bat der UN-Hilfskoordinator für Syrien, El-Mostafa Benlamlih, in einem Interview die Assad Regierung: “Lassen Sie die Politik beiseite und lassen Sie uns unsere humanitäre Arbeit tun (…) Wir können es uns nicht leisten, zu warten und zu verhandeln”. Nach einem Erdbeben sind die ersten 48 Stunden am wichtigsten, denn es müssen die Menschen unter den Trümmern gesucht und gerettet werden.
Das alles zeigt, dass das Aufheben der internationalen Sanktionen keine direkte Lösung für die Opfer des Erdbebens bringen würde. Und es ist wichtig zu betonen, dass Hilfslieferungen für Syrien nicht von Sanktionen betroffen sind. Die EU und die USA haben 2021 humanitäre und medizinische Hilfe von den Sanktionen befreit. Denn die EU-Sanktionen „richten sich nicht gegen Menschen in Syrien, sondern gegen das Regime und seine Unterstützer, Profiteure der Kriegswirtschaft und Personen, die schwerste Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben“, so eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes in Berlin. Am Mittwoch hat die syrische Regierung auch offiziell Hilfe beim EU-Zivilschutzzentrum beantragt, gab EU-Kommissar Lenarcic bekannt. Lenarcic sagte weiter: „Wir ermuntern die EU-Mitgliedsstaaten, auch hier schnell zu liefern“.
Die Lage in ganz Syrien (und natürlich auch in der Türkei) entwickelt sich jede Stunde weiter. Stand Freitag, 10.02., konnten bisher 14 Lastwagen mit Hilfsgütern der UN und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) den Grenzübergang Bab al-Hawa in Nordsyrien passieren konnte. Zudem wurde Donnerstag bekannt, dass das Finanzministerium der USA eine Sanktionsbefreiung ausgestellt hat, die für 180 Tage alle Transaktionen nach Syrien genehmigt, die im Zusammenhang mit dem Erdbeben stehen. Diese Lockerung der Sanktionen gegen Syrien gehe noch über die bestehende Regelungen für humanitäre Hilfe hinaus, so das Ministerium.
Die vielen Jahre von fehlender Infrastruktur, Krieg und der Brutalität des Assad-Regimes werden nicht durch Lockerung oder Aufhebung der Sanktionen, oder durch UN-Gelder verschwinden. Aber hoffentlich wird es ermöglicht, dass lebensrettende Hilfe ankommen kann.
Die erwähnten Spendenaufrufe und Initiativen online zeigen auch, wie viele Menschen helfen möchten. Diese Hilfe ist mehr als dringend, sie sollte lieber gestern als heute schon ankommen. Mit jedem Schmerz kann auch Hoffnung geboren werden. Ich hoffe für alle Syrer*innen, dass wir eines Tages ohne Schmerzen leben dürfen.
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- mahmoud-sulaiman-aO9nGw9Cbk0-unsplash: Mahmoud Sulaiman on Unsplash