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„Wir sind Übersetzerinnen, Beschützerinnen, Therapeutinnen, Restaurant, Bank, Halt und Anker“ – Zwei Töchter über Care-Arbeit 

Töchter übernehmen in vielen Familien wichtige Fürsorge-Verantwortung. Sogol und Shari erzählen über ihre Rolle in der Familie, die Verantwortung für ihre Eltern und die Care-Arbeit, die Kinder aufgrund fehlender gesellschaftlicher (Hilfe-)Strukturen übernehmen müssen.

Fotograf*in: Ron Lach - Pexels

Das Thema der aktuellen kohero Ausgabe „Who Cares?“, die sich mit migrantischen Perspektiven auf Care-Arbeit auseinandersetzt, lässt mich nicht los. Als älteste Tochter einer migrantisierten Familie und Enkeltochter von sogenannten Gastarbeiter*innen, die unter unmenschlichen Bedingungen ihre Körper kaputtgearbeitet haben, ist Sorge- und Pflegearbeit in meinem Leben immer präsent gewesen. Um der unsichtbaren und vor allem unbezahlten Sorgearbeit mehr Aufmerksamkeit zu schenken, habe ich mit zwei Töchtern über ihre Erfahrungen gesprochen. 

 

Wie wäre es mit: „Schön, dass du dich sorgst!“ – Sogol

Sogol

Mit zunehmendem Alter übernehme ich mehr Verantwortung für meine Familie. Ich bin die älteste Tochter, beziehungsweise habe ich eine Zwillingsschwester und einen jüngeren Bruder. Meine Mama lebt seit sieben Jahren in den USA und meine Eltern haben sich scheiden lassen. Sie haben einen etwas größeren Altersunterschied und mein Vater geht nun auf die 78 zu. Aber nicht nur für meine Eltern, sondern auch für meine Geschwister übernehme ich viel Verantwortung. Ich bin nicht nur die Person, die immer regelmäßig nach meinem Papa schaut, sondern ich bin auch diejenige, die meiner Zwillingsschwester unter die Arme greift. Sie hat zwei Kinder und ist verheiratet, ich unterstütze sie zum Beispiel bei der Organisation von Kindergeburtstagen. 

Ich bin Restaurant, Bank, Therapeutin und Seelsorge gleichzeitig für meine Familie. Ich höre mir immer die Sorgen von allen an und muss mithelfen, sei es bei finanziellen Problemen oder wenn jemand Termine hat und irgendwo hingefahren werden muss. Das ist tagtäglich extrem viel Sorgearbeit.

In unserer Gesellschaft, vor allem in Deutschland, habe ich das Gefühl, dass es negativ verbunden wird, wenn man sich um seine eigene Familie kümmert. Ich kriege manchmal diskriminierende Sachen zu hören, wie zum Beispiel dass es ja normal wäre, dass bei “Ausländern” die Kinder die Pflege übernehmen. Ich mache diese Arbeit ja, weil ich meine Eltern lieb habe und will, dass es ihnen gut geht. Aber es macht schon etwas mit einem, solche Aussagen zu hören. Ich würde mir wünschen, dass es normaler wird, dass es Kinder in unserer Gesellschaft gibt, die irgendwann anfangen, die Verantwortung und Sorge für ihre Eltern zu übernehmen – schließlich haben sie sich auch Jahre lang um uns gekümmert. Irgendwann wendet sich eben das Blatt. 

Mein Papa und ich haben ein enges Verhältnis zueinander. Jetzt werde ich nach Berlin ziehen. Und die große Frage ist nun: Was passiert jetzt? Wohin geht dann Papa? Ich habe mit ihm darüber gesprochen und er meinte: „Wenn du gehst, würde ich schon gerne mitkommen.“ Mein Papa ist jederzeit bei mir willkommen und er kann natürlich mitziehen. 

Es wäre schön, wenn das Thema Sorgearbeit nicht mit Negativem verbunden wäre, sondern vielleicht mit einem „Hey cool, dass du das machst“ oder „Schön, dass du dich darum sorgst“. 

 

„Wir leben in einer Gesellschaft, wo wir die kranken Menschen unsichtbar machen, damit das kapitalistische System weiterhin funktionieren kann“ – Shari

Ich bin zwar in Deutschland geboren, aber ich bin die Tochter einer aus dem Iran geflüchteten Familie. Ich bin mit vielen Erwartungen und Hoffnungen aufgewachsen, die mir viele Superkräfte, aber auch viele Defizite eingebracht haben.

Das Übernehmen von Verantwortung wurde für mich besonders prägend, nachdem mein Vater an Lungenkrebs verstarb. So wurde mir Care-Verantwortung auferlegt, ohne dass ich danach gefragt wurde. Das ist das Schicksal vieler Migra-Kinder: Sie mussten immer in die Verantwortung gehen, weil Integration zwar eine Anforderung des Staates war, die Umsetzung aber bei den einzelnen Familien selbst lag. Das bedeutete: Wir Kinder waren immer Übersetzer*innen, Beschützer*innen, vielleicht auch Halt und Anker – in einem sehr dunklen Nachkriegsdeutschland, in dem Rassismus zwar nicht benannt, aber überall erlebbar und spürbar war. 

Als wir nach Deutschland flohen, waren wir nicht willkommen. Nein, auf keinen Fall. Wir waren nur geduldet. Und genau das hieß es ja auch: Aufenthaltsstatus „geduldet“. Bitte bleib nicht zu lange. Bitte geh. Ich bin die Jüngste in der Familie, meine Geschwister hatten noch viel mehr Aufgaben, die sie stillschweigend angenommen haben. Es gab keine andere Wahl. Wer die Flucht überstanden hatte, war froh, überhaupt überlebt zu haben. 

Ich war noch sehr jung, als mein Vater zunächst einen Herzinfarkt hatte. Ein oder zwei Jahre später erkrankte meine Mutter an einer sehr seltenen Autoimmunerkrankung (Pemphigus vulgaris). Meine Schwester pflegt meine Mutter hauptsächlich und ich unterstütze sie dabei so gut ich kann – sowohl in der Pflege als auch finanziell. Denn wer in dieser Gesellschaft finanziell nicht auf das Kranksein vorbereitet ist, leidet sehr stark.

Wir befinden uns zwar in Deutschland und sind damit privilegiert, aber viele Dinge werden nur minimal bezuschusst. Dazu kommt ein wahnsinnig bürokratischer Aufwand, den eine betroffene Person, die jeden Tag ums Überleben kämpft, gar nicht allein bewältigen könnte. Auch wenn ich mich in einer extrem belastenden Situation für Psyche und Körper befinde, bin ich gleichzeitig dankbar, dass ich da sein und helfen kann. Denn die Alternative wäre, dass niemand da ist. Und das bedeutet in Pflegefällen den Tod. 

Die Betreuung und Pflege durch Familienangehörige hat eine ganz andere Qualität: Wir pflegen mit Liebe. Wir sind emotional viel stärker involviert und können dadurch ganz anders unterstützen. Wir achten eben auf die kleinsten Details.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der kranke Menschen unsichtbar gemacht werden, damit das kapitalistische System, das von gesunden Menschen lebt, weiterhin funktionieren kann. Die Menschen, die ihre Eltern, Großeltern oder Geschwister pflegen, sind mehrheitlich Frauen, die dafür nicht bezahlt werden. Würde es diese Frauen nicht geben, dann würde das ganze System am ersten Tag kollabieren. 

Die Menschen, die jeden Tag helfen und pflegen, werden nicht gesehen. Sie werden nicht gehört. Sie sind einfach unsichtbar. 

Abgesehen von der großen gesamtgesellschaftlichen Veränderung wünsche ich mir mehr emotionalen Halt. Wenn jede Person in ihrem Umfeld kurz darauf achtet: Wer ist hilfebedürftig? Wer hilft sogar in der Pflege? – und diesen Personen ein bisschen Raum gibt … Das wäre ein Anfang. Ein einfaches „Wie geht es dir?“, „Wie machst du das?“ oder „Ich bin für dich da“ kann so viel bewirken. Genauso wie du mit Worten jemanden verletzen kannst, kannst du auch mit Worten Menschen aufbauen, ihnen Zuversicht und Mut geben. 

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