Syrer*innen stellen inzwischen die größte Gruppe eingebürgerter Bürger in Deutschland. Seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 sind Millionen Menschen aus Syrien geflohen. In Deutschland lebten Ende 2023 rund 973.000 Syrerinnen und Syrer; bis 2025 ist ihre Zahl auf etwa 975.000 gestiegen. Davon verfügen etwa 712.000 über einen anerkannten Flüchtlingsstatus oder subsidiären Schutz. Den stärksten Zustrom verzeichnete Deutschland im Jahr 2015, als über 320.000 syrische Geflüchtete einen Asylantrag stellten.
Die Ende März 2025 veröffentlichte Studie der Soziologinnen Irene Tuzi und Lina Omran gibt erstmals Einblick in die Strukturen, Herausforderungen und Potenziale der syrischen Diaspora in Deutschland. Zwischen Dezember 2023 und Oktober 2024 untersuchten die Forscherinnen mehr als 200 zivilgesellschaftliche Initiativen in Deutschland, befragten zahlreiche Akteur*innen und analysierten politische wie soziale Dynamiken – noch vor dem Sturz des Assad-Regimes.
Im Mittelpunkt der Studie steht das zivilgesellschaftliche Engagement syrischer Migrant*innen. Im Laufe der Jahre haben Syrer über 200 Initiativen in ganz Deutschland gegründet – die meisten davon in Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Ab 2023 waren 74 % dieser Initiativen relativ klein, mit weniger als 20 Mitgliedern. Etwa 20 % waren mittelgroß und die restlichen 16 % wurden als große Initiativen eingestuft, die jeweils mehr als 50 Mitglieder und Freiwillige hatten. Diese Diaspora-Initiativen erfüllen drei entscheidende Funktionen: Sie unterstützen die Integration in Deutschland, sie leisten humanitäre Hilfe in Syrien und vernetzen über Grenzen hinaus. Sie sind oft die erste Anlaufstelle für neue Geflüchtete, bieten Sprachkurse, psychologische Beratung, Rechtsbeistand oder Bildungsprogramme an und helfen bei der Orientierung im deutschen System.
Vielfalt und soziale Ungleichheit schaffen Spannungsfelder
Die Studie gibt die große Vielfalt innerhalb der syrischen Diaspora – und die Spannungen, die daraus entstehen, zu erkennen. Eine der markantesten Bruchlinien verläuft zwischen denjenigen, die vor der Revolution 2011 nach Deutschland kamen, und denjenigen, die danach flohen. Erstere verfügen häufig über eine stabilere Lebenssituation, längere Aufenthaltserfahrung und sind oft konservativer geprägt. Letztere sind in vielen Fällen aktivistisch sozialisiert, politisch engagiert und stärker auf systemischen Wandel ausgerichtet. Das führt innerhalb der Gemeinschaft nicht selten zu Konflikten über Prioritäten, Vorgehensweisen und politische Haltungen.
Auch soziale Klassenunterschiede prägen das Bild: Während Angehörige der Mittel- und Oberschicht mit Bildung, Berufserfahrung und Sprachkompetenz häufiger Führungsrollen in Initiativen übernehmen, bleiben viele Menschen aus der Arbeiterklasse auf unterstützende Tätigkeiten beschränkt. Sie haben oft schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, weniger Zugang zu Netzwerken und sehen sich häufiger Diskriminierung ausgesetzt.
Ein wichtiges Anliegen vieler Initiativen ist die Förderung der Gleichstellung. Programme zur Stärkung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Frauen, Trainings zu politischer Teilhabe und Angebote zur Selbstorganisation gehören inzwischen zum festen Repertoire zahlreicher Organisationen. Und dennoch bleibt die Repräsentanz von Frauen in Führungspositionen begrenzt – strukturelle Hürden bestehen fort. Einige Initiativen arbeiten gezielt auch mit LGBTQ+-Personen und anderen marginalisierten Gruppen zusammen – ein Zeichen für die wachsende Pluralität innerhalb der syrischen Diaspora.
Integrationserfolge und ihre Grenzen
Trotz vieler Hürden gelingt die Integration in Teilen aber erstaunlich gut. 2023 erhielten 75.500 Syrer*innen die deutsche Staatsbürgerschaft – mehr als jede andere Nationalität und im Durchschnitt bereits nach 6,8 Jahren Aufenthalt. Viele sind berufstätig, absolvieren Ausbildungen oder gründen Unternehmen. Doch besonders Personen mit subsidiärem Schutz oder Duldung leben weiterhin in rechtlicher Unsicherheit, was langfristige Perspektiven erschwert. Gleichzeitig berichten viele der Interviewten, dass sie sich zwar rechtlich sicherer fühlten als noch vor wenigen Jahren, sich aber weiterhin nicht vollständig als Teil der deutschen Gesellschaft anerkannt sähen. Der Alltag sei oft geprägt von einem Spannungsfeld zwischen Integration und Ausgrenzung, Zugehörigkeit und Fremdzuschreibung.
Herausforderungen und eine transnationale Identität
Die Studie dokumentiert auch die Veränderung im politischen Klima. Nach einem Höhepunkt des Engagements im Jahr 2016 – ausgelöst durch die damalige Willkommenskultur – ist die Zahl neu gegründeter Initiativen in den letzten Jahren rückläufig. Gründe dafür sind Finanzierungsengpässe, eine zunehmend migrationskritische Öffentlichkeit und interne politische Spannungen. Dennoch birgt die junge syrische Diaspora enormes Potenzial. Soziale Medien spielen eine entscheidende Rolle für politische Mobilisierung und kulturelle Selbstverortung. Plattformen wie Instagram, YouTube und TikTok sind längst zu Räumen für politische Artikulation, kulturellen Ausdruck und transnationale Vernetzung geworden – insbesondere für die jüngere Generation.
Die Studie zeigt, dass die syrische Diaspora in Deutschland kein Zwischenzustand ist, sondern eine eigenständige gesellschaftliche Realität. Syrer*innen in Deutschland würden nicht einfach auf eine Rückkehr warten, noch strebten sie eine vollständige Assimilation an. Vielmehr entstünde eine transnationale Identität, die Aufnahmeland und Herkunftsland bereichern könnte.
Gerade jetzt, nach dem Sturz des Assad-Regimes, stellt sich die Frage: Wie wird sich die syrische Diaspora positionieren? Wird sie sich verstärkt in den Wiederaufbau Syriens einbringen – und wenn ja, aus der Ferne oder durch Rückkehr? Oder wird sie ihren Fokus stärker auf den Aufbau eines stabilen Lebens in Deutschland legen?
Klar ist: Wie syrische Deutsche auf den Wandel in Syrien reagieren, wird nicht nur die Zukunft ihrer Heimat beeinflussen – sondern auch die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland entscheidend mitprägen.