Zum Inhalt springen
3 Min. Lesezeit Newsletter

migrantische Psyche: Survivor guilt

Im Newsletter „migrantische psyche“schreibt Zara über mentale Gesundheit mit Fokus auf die Erfahrungen von Menschen mit Migrations- und Fluchtbiographie. Dieses Mal geht es um das Thema survivor guilt.

migrantische Psyche: Survivor guilt

Im letzten Newsletter ging es um immigration guilt, von der wir als migrantisierte Menschen häufig betroffen sind, ohne einen Namen dafür zu haben. Heute möchte ich ein damit verwandtes, ein ähnliches, doch trotzdem anderes Thema aufgreifen, dass leider auch stets aktuell bleibt: Survivor guilt.

Survivor guilt tritt laut offiziellen Diagnosekriterien bei Menschen auf, die dem Tod ausgesetzt waren oder ihn miterlebt und überlebt haben. Aber auch Menschen, die in den tödlichen Situationen nicht physisch anwesend waren, können survivor guilt empfinden. Oft fühlen sich die (Über)Lebenden für den Tod oder die Verletzung anderer verantwortlich, selbst wenn sie in der Situation weder Macht noch Einfluss hatten.

Hierbei umfasst survivor guilt einerseits das Schuldgefühl, die moralische Emotion, die durch eine negative Selbstbewertung gekennzeichnet ist und nicht selten auch eine posttraumatische Erfahrung darstellt. Diese Schuld resultiert häufig aus einer wahrgenommenen Handlung oder Untätigkeit und Ungerechtigkeit. Diese Ungerechtigkeit kann interpersonell sein, also beispielsweise eine Situation betreffen, in der eine Person verstorben ist, die das Überleben vermeintlich mehr verdient hätte. Auch kann die Ungerechtigkeit global sein und sich unter anderem darauf beziehen, dass die Welt ein ungerechter, ungleicher Ort ist.

Auch empfundene Scham spielt eine ausschlaggebende Rolle. Wir alle kennen Schamgefühl, wissen wir aber auch, woraus dieses besteht und wieso wir es empfinden?

Das Schamgefühl kann als eine moralische Emotion verstanden werden, das entsteht, wenn wir das Gefühl haben, bestimmten Werten, Normen, Regeln und Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Es entsteht aus einem Gefühl der Minderwertigkeit oder Unwürdigkeit des Selbst. Schuld und Scham verstärken sich gegenseitig durch sich bedingende Überzeugungen; beispielsweise wenn wir denken, wir hätten es nicht verdient, zu überleben, also müssen wir etwas falsch gemacht haben. Genauso funktioniert dies andersherum: Wir hätten etwas falsch gemacht, also würden wir es nicht verdienen, zu überleben.

Survivor guilt wurde bei einer Vielzahl von traumatisierten Gruppen festgestellt; unter anderem bei geflüchteten Menschen, Überlebenden von Ereignissen mit einer Vielzahl von Todesopfern, sprich Krieg, Genozid, Naturkatastrophen, Pandemien. Auch Überlebende von Terroranschlägen und Menschen, die schwere Verluste erlitten haben, sind oft betroffen.

Um auch hier wieder eine kritische Perspektive einzuführen und Dinge nicht bloß für das zu akzeptieren, was sie sind: survivor guilt galt in der psychologischen Diagnostik früher als Symptom einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) im DSM-III, wurde dann als Begleitsymptom festgelegt (DSM-IV), bis es im DSM-5 komplett gestrichen wurde. Trotz der früheren diagnostischen Bedeutung wurde es bisher systematisch kaum untersucht und ist vielen Menschen ohnehin nicht bekannt.

Wichtig zu erwähnen ist auch, dass die bestehende theoretische Darstellung in erster Linie psychoanalytisch gefärbt, aus Beobachtungsstudien abgeleitet und nicht empirisch geprüft ist. Leider wurden bisher nur wenige Behandlungsstudien veröffentlicht. Doch auch wenn Modelle, Konstrukte und Theorie sehr relevant sind, erfüllen nicht alle, die diese Schuldgefühle mit sich tragen, die diagnostischen Kriterien für eine PTBS.

Viele von uns, die survivor guilt empfinden, waren nicht physisch in lebensbedrohlichen Situationen anwesend. Trotzdem ist unser Alltag geprägt von Berichten und Live-Übertragungen von Krieg, Genozid und sonstiger Gewalt, die wir verfolgen und von der häufig Menschen, die wir kennen und lieben, betroffen sind.

Und auch wenn es Fremde sind, teilen wir mindestens das Menschsein, meistens aber auch die Religionszugehörigkeit, die ethnische Zugehörigkeit oder das Gefühl von sonstiger Identifikation. Häufig wissen wir jedoch nicht einmal, dass wir unter survivor guilt leiden, da diese Gefühle für viele als „normal“ gelten und lebensbegleitend sind. Gleichzeitig prägen sie unser Sein maßgebend.

Um uns selbst wohlwollender und gnädiger zu begegnen, ist es wichtig zu verstehen, dass diese Gefühle tatsächlich normal sind und dafür sprechen, dass wir Gemeinschaftsgefühl besitzen, das uns an die Verbundenheit zueinander erinnert. Wir sollten gleichzeitig realistisch einschätzen und bewerten, inwiefern die Ungleichheit uns betrifft und die Sinnfindung für das eigene Überleben und Leben in den Fokus rücken.

Auch sollten wir sekundäre Bewertungen, die Schuldgefühle aufrechterhalten, hinterfragen: Was sind Vor- und Nachteile dieser Gefühle? Wieso halten wir daran fest? Häufig inspirieren unsere Gefühle auch Handlungen; wir können also spenden und anderweitig aktiv werden, sollten uns aber bewusst machen, dass wir keine tatsächliche Schuld auszugleichen haben. Es sollte also mehr um Motivation als um Kompensation gehen.

Kennst auch du das Gefühl von survivor guilt? Falls ja, in welchen Bereichen deines Lebens ist es besonders präsent? Konntest du dein empfundenes Schuldgefühl in Inspiration umwandeln?

Teilen Teilen Teilen Teilen