Willkommenskultur im Wandel der Zeit

Für die Disziplin der Sozialen Arbeit ist die Willkommenskultur eine Chance, Risiko und Herausforderung zugleich. Warum das so ist und was für die gelebte Freundlichkeit gegenüber Geflohenen wichtig ist, wird in diesem Beitrag über die Willkommenskultur diskutiert.

ehrenamtliches Engagement Foto: Ra Dagon via unsplash

Der Begriff „Willkommenskultur“ beschreibt in etwa freiwilliges bürgerliches Engagement und eine bestimmte positive gesellschaftliche Haltung gegenüber Migranten*innen (Heckmann 2014). Für besorgte Bürger*innen und sonstige Risikogruppen mag der Begriff Willkommenskultur ein Reiz- oder Schimpfwort darstellen und sorgt in einigen Kreisen für negative emotionale Aufregung. Für die Disziplin der Sozialen Arbeit ist die Willkommenskultur jedoch als Chance, Risiko und Herausforderung zu betrachten. Warum das so ist und was für die gelebte Freundlichkeit gegenüber Geflohenen wichtig ist, wird in diesem Beitrag über die Willkommenskultur diskutiert.

Nicht erst seit 2015 engagieren sich Bürger*innen sämtlicher gesellschaftlicher Positionen, aller Geschlechter und jeden Alters für Geflohene. Eine bemerkenswerte Anzahl von Menschen organisiert sich: Dabei wird materielle Nothilfe geleistet, Begleitung bei Amtsbesuchen organisiert, Deutsch unterrichtet oder eine Arbeitsstelle vermittelt. Obwohl parallel medial wirksamere Keimzellen rechter Bürgerinitiativen scheinbar mehr Beachtung erhalten, kann man behaupten, dass es sich um eine der größten zivilgesellschaftlichen Bewegungen in der Bundesrepublik der letzten Dekaden handelt.

Ehrenamt im Bereich Flucht und Migration

Die Freiwilligen übernehmen auch heute noch Aufgaben der staatlichen Fürsorge, die bisweilen überfordert scheint oder zumindest schien. Damit ergänzen und ersetzen sie die Aufgaben professioneller Anbieter Sozialer Arbeit, übernahmen zu Beginn und übernehmen weiterhin eine wichtige Funktion in der Zivilgesellschaft.

Auch heute sind Ehrenamtliche trotz politischer, juristischer und personeller Nachjustierungen ein tragendes Glied im Setting Flucht und Migration. Sie sind dabei sekundäre Zielgruppe Sozialer Arbeit: Während Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in der Regel vertraglich gebunden nach bestimmten Richtlinien und Vorgaben, zu bestimmten Tageszeiten für eine definierte Zielgruppe und für einen Dienstleister arbeiten, übernehmen Ehrenamtliche eine gänzlich andere Position, die möglicherweise auf den ersten Blick nicht als diese erkannt wird (Han-Broich 2012; Hamann und Karakayali 2016; Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend 2017).

Angriffe auf Flüchtlingshelfer

Ehrenamtlich Aktive entscheiden meist selbst, wann, wie, für wen und in welchem Umfang sie sich engagieren. Das bedeutet, solange sie Freude haben, engagieren sie sich. Sollten sie jedoch keinen Sinn mehr in ihrem Engagement sehen und den Eindruck haben, dass sie den politischen und gesellschaftlichen Rückhalt verlieren oder gar Angst um sich selbst oder ihre Angehörigen haben, so wirkt sich das negativ auf die Personenzahl und die Qualität dieser Hilfen aus.

Flüchtlingshelfer*innen werden angegriffen, verantwortlich gemacht, ausgeschlossen oder werden sogar kriminalisiert. Aber auch die erhofften Erfolge der Bemühungen bleiben aus, werden durch Abschiebungen oder Arbeitsverbote zu Nichte gemacht (siehe hierzu exemplarisch: Kastner 2018; Sprockhoff 2018; Staib 2019). Wer nach solchen Erfahrungen noch weiter macht, beweist Mut und Idealismus. Aber auf jeden Fall eine hohe Frustrationstoleranz.

Arbeit für Geld

Die oben beschriebenen Freiheiten haben hauptamtliche Sozialarbeiter*innen nicht. Sie unterscheiden sich maßgeblich dadurch vom Ehrenamt, dass sie einen Job machen. Sie arbeiten für Geld, haben studiert und kennen die Bezugsdisziplinen Sozialer Arbeit: Straf-, Ausländer-, Asyl- und Sozialrecht, Psychologie und Medizin und angewandte Methoden der Sozialen Arbeit.

Dadurch sind sie neben der individuell-persönlichen Qualität und Motivation der Einzelnen vor allem als notwendige Akteure im Geflecht der verschiedenen Interessensvertreter im Bereich Fluchtmigration zu sehen. Im besten Fall sind sie respektierte Kooperationspartner*innen von Ausländerbehörde, Sozialamt oder Polizei. Im ungünstigeren Fall streiten sie mit dem Bundesamt, mit den Behörden oder mit dem Jobcenter. Alles zum Wohle der Klienten*innen.

Engagement im interdisziplinären Netzwerk

Die fachliche Ausbildung bietet (im Idealfall) in Verbindung mit dem interdisziplinären Netzwerk eine harmonische Ergänzung zum privaten Engagement. Diese kommt spätestens bei juristischen Finessen oder Kommunikationsproblemen, bei familiären Tragödien oder bei der Bearbeitung von unangenehmen Fällen und Nachrichten zur Geltung: Nämlich genau dann, wenn ein negativer Asylbescheid eintrifft, ein Haftbefehl zugestellt wird, die Abschiebung ansteht, ein Suizidversuch unternommen oder die Unterkunft angezündet wird.

Wer ehrenamtlich mit Geflohenen arbeitet, trifft wahrscheinlich überall auf Sozialarbeiter*innen. In der Praxis sind sie als Berater*innen in psychosozialen Zentren, in der Kinder- und Jugendhilfe, in zentralen und dezentralen Unterkünften, als Koordinatoren von Freiwilligen und in der Asylsozialberatung mit unterschiedlichen Zielgruppen tätig (Merk 2016; Schirilla 2016; Rehklau 2017; Kolbe und Surzykiewicz 2019).

Konfliktpotenziale reduzieren

Die strukturellen Voraussetzungen und die Praxiserfahrung beschreiben bei beiden Gruppen unterschiedliche Konfliktpotentiale. Dabei gilt: Je weniger deutlich kommuniziert wird, je weniger jedem klar ist, was er oder sie kann, darf und will, desto mehr Komplikationen, desto mehr Frustrationen entstehen.

EMPFEHLUNGEN FÜR DIE ZUSAMMENARBEIT

Mit folgenden Empfehlungen kann in der Zusammenarbeit viel erreicht und einiges vermieden werden:

  • Treffen sie sich regelmäßig. Regelmäßige Treffen helfen dabei, Verlässlichkeit und Kontinuität zu entwickeln. Das benötigen alle Beteiligten.
  • Verteilen sie klare Aufgaben. So macht keiner „zu viel“ oder „zu wenig“. Jede und jeder weiß, in welchem Ausmaß sie oder er etwas erledigt. Das bietet Transparenz und führt zu besserer Akzeptanz und Kommunikation. Zum Beispiel können sie ihre Aufgabenbereiche aufteilen: (Aus-)Bildung und Arbeit, Mobilität und Begleitung, Gesundheit, Krisen und Versorgung, Unterkunft und Wohnen, Kinder und Familie. Andere bevorzugen „Patenschaften“, wobei hier immer das Risiko besteht, dass tendenziell „schwierigere“ Fälle weniger Unterstützung erhalten, obwohl sie es benötigen.
  • Grenzen sie sich ab. Sie sind Ehrenamtliche. Sie können, aber müssen nichts tun. Das sollten alle wissen, mit denen sie zusammenarbeiten. Schützen sie sich vor zu viel Engagement. Auch sie sind einem erhöhten Risiko einer Belastungserscheinung ausgesetzt (Stichwort: Sekundärtraumatisierung)

Mehr Akzeptanz durch Transparenz

  • Sorgen sie für Verständlichkeit. Kommunizieren sie mit leichten, verständlichen oder einfachen Sprachformaten. Fragen sie nicht „hast du mich verstanden?“, sondern „Erkläre mir bitte, was du verstanden hast“ (Springer 2014; Ebert et al. 2017).
  • Versuchen sie Perspektivenwechsel. Versetzen sie sich nicht nur in die Lage der Geflohenen, sondern auch in die Situation von Behördenmitarbeiter*innen, Polzist*innen oder Sozialarbeiter*innen. Sie werden sehen, dass mehr Verständnis für ihr Gegenüber zu mehr Erfolg bei ihren Bemühungen führen wird. Denken sie daran: Geflohene sind mündige und eigenständige Wesen mit Meinungen, Wünschen und Charakter. Begegnen sie sich auf Augenhöhe.
  • Lernen durch Lehren. Fachwissen über Flucht und Migration helfen ihnen dabei, Sachlagen besser zu verstehen und in Diskussionen besser zu argumentieren. Besuchen sie Fortbildungen und Vorträge zum Thema. Konsultieren sie Flyer und Informationen der Wohlfahrtsorganisationen. Wagen sie sich an Fachliteratur (zum Beispiel: (Haubner und Kalin 2017; Heinhold 2015; Ronte 2018; Hocks und Leuschner 2017). Nehmen sie die Geflohenen und sich als Experten in eigener Sache wahr und lernen sie voneinander. Als Empfehlung kann hier das international bekannte Modell „Lernen durch Lehren“ umgesetzt werden (siehe Martin 2018).

 Innere Stärke mobilisieren

  • Machen sie religiös-spirituelle Angebote. Geflohene sind oft sehr religiös. Ihr Glaube und die damit verbundenen Regeln und Bräuche sind oft das einzige, was ihnen geblieben ist. Religiös-spirituelle Angebote und Begleitung können den Geflohenen und ihnen dabei helfen, innere Stärke zu mobilisieren, Motivation zu finden und ihrem Handeln einen Sinn zu geben. Sie können damit für mehr Lebensqualität sorgen (Freise 2017; Pirner 2017; Kolbe und Surzykiewicz 2019).
  • Verteidigen Sie die Menschenrechte. Wenn Sie selbst wissen, nach welchen Maximen sie handeln und anderen das vermitteln können, wird ihre Tätigkeit möglicherweise einfacher. Zumindest aber können sie sich moralisch stabilisieren und motivieren. Ein Ansatz sind zum Beispiel die „Neuen Menschenrechte“ von Jean-Pol Martin, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren. An diesen kann man sein Handeln orientieren und überprüfen, welche Angebote und Hilfestellungen sinnvoll sind (Martin 2018).
  • Geben sie nicht auf. Ihr Engagement birgt hohes Frustrationspotential. Es belastet sie selbst, ihre Beziehungen und ihre sozialen Kontakte. Dadurch werden sie möglicherweise zur Projektionsfläche von Ängsten, Sorgen und Wut. Sie werden oft als Störfaktor und „links-grüne Gutmenschen“ beschimpft. Machen sie weiter so. Sie treten für eine Gruppe am Rande unserer Gesellschaften ein, die sonst wenig Hilfe hat.

Abschließend gebührt ihnen Dank und es ist beschämend, wenn dieser nicht bei ihnen ankommt. Machen sie weiter! Bitte.

Literaturverzeichnis zum Beitrag

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Umzug. Zeichnungen: Eugenia Loginova

Alltag in Corona-Zeiten, Teil 2: der Umzug

Sahar und Tilla sind seit zwei Jahren ein Schreibtandem. Darüber hinaus sind sie Freundinnen geworden. Sie treffen sich regelmäßig und sind per WhatsApp in Kontakt. Hier tauschen sie sich im Tagebuchformat über ihr Leben in der Corona-Krise aus. Die Künstlerin Eugenia Loginova hat ihre Tagebuchgeschichte illustriert.

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hellblaue Flagge mit einer weissen Taube vor blauem Himmel

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Autorengruppe
Simon ist Wissenschaftler an der Universität Eichstätt-Ingolstadt am Lehrstuhl Sozialpädagogik, wo er zu den Themen Flucht, Inklusion und interkulturelle Pädagogik forscht. Außerdem ist er Asylberater bei der Caritas und Dozent an diversen anderen Hochschulen. Neben der Familie widmet er sich in seiner Freizeit den Themen Kochen und Kochkultur. Für kohero bereitet er seine Forschungsthemen allgemeinverständlich auf.

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