Am Freitagabend habe ich, wie viele andere, die Nachrichten über den furchtbaren Anschlag in Solingen verfolgt. An erster Stelle möchte ich mein Beileid für die Familien der Opfer aussprechen und den Verletzten im Krankenhaus eine schnelle Genesung wünschen. Ich denke auch an alle Menschen, die diese schrecklichen Minuten miterleben mussten.
Nachdem ich die Eilmeldungen gesehen habe, rief ich einen Freund an, der mit seiner Familie in Solingen lebt. Er ist Syrer mit deutschem Pass. Er war auch erschüttert und hatte Angst um seine Familie. Wir haben uns gemeinsam gefragt, wer der Täter ist. Das gesamte Wochenende habe ich die Berichterstattung verfolgt. Wie mein Kollege Ahmad Shihabi auf seinem Instagram-Account schrieb: “Nach dem Messer-Anschlag in Solingen interessieren sich viele für die Nationalität des Täters, statt sich mit den Opfern zu solidarisieren.” Auch mich ließ das Thema "Wer war es?” ehrlich gesagt nicht los.
Am Sonntag wurde dann bekannt, dass ein Syrer sich der Polizei gestellt hat und für den Anschlag verantwortlich ist. Der 26-Jährige kam 2022 nach Deutschland, hätte nach Dublin-Regelung eigentlich nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Das passierte jedoch innerhalb der sechsmonatigen Frist nicht, sodass der Mann subsidiären Schutz in Deutschland erhielt. Bis Freitag lebte er in einer Unterkunft für Geflüchtete in Solingen.
Nach den aktuellen Informationen hat der sogenannte “Islamische Staat” die Tat für sich beansprucht. Dennoch sind viele Fragen offen: War der Mann Mitglied der Terrormiliz, als er noch in Syrien war? Ist er angeleitet worden? Hat er sich hier in Deutschland radikalisiert? Gab es im Vorfeld Hinweise auf seine menschenfeindlichen Einstellungen? Diese und weitere Fragen müssen durch sorgfältige Ermittlungen geklärt werden.
Ich bin mir unsicher, was ich, als syrischer Medienmacher in Deutschland, zu diesem Zeitpunkt tun oder schreiben soll. Ich habe das Gefühl, ich sollte mich öffentlich positionieren. Natürlich spreche ich dabei nur in meinem Namen, ich möchte und kann nicht “für alle Syrer” etwas behaupten. Auch ich bin nach Deutschland gekommen und habe hier subsidiären Schutz erhalten. Wie viele andere Geflüchtete und Syrerinnen habe ich hier ein neues Leben aufgebaut und fühle Dankbarkeit für diese Möglichkeiten. Ich weiß, dass ich und alle in meinem Umfeld (trotz Momente der Verzweiflung oder Erschöpfung mit Deutschland) weiterhin in dieser Gesellschaft leben, dazugehören und aktiv sein möchten. Aber warte: Rechtfertige ich mich gerade dir gegenüber? Sollten wir (und wen meine ich damit?) uns rechtfertigen? Oder sollten wir glauben, dass wir ohnehin Teil dieser Gesellschaft sind? Stellt dieser Täter und sein mörderischer Anschlag wirklich die Leben von allen Syrerinnen in Deutschland infrage? Sollte es nicht offensichtlich sein, dass wir mit diesem Mörder nichts gemeinsam haben, außer dass wir im gleichen Land geboren wurden?
Diese Fragen beschäftigen mich, aber die medialen und politischen Diskussionen sind schon im Streitmodus, es werden keine Fragen mehr gestellt. Es geht in vielen Beiträgen, Artikeln, Reden und Kommentaren allgemein gegen Geflüchtete und Muslim*innen in Deutschland… Zu oft habe ich diesen Teufelskreis schon miterlebt.
Friedrich Merz, CDU, fordert in einem Newsletter Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan, sowie einen Aufnahmestopp von Geflüchteten aus diesen zwei Ländern. Und weiter: Jeder ausreisepflichtige Straftäter soll “in zeitlich unbegrenzten Abschiebegewahrsam” genommen werden dürfen und die von der Ampelkoalition beschlossenen “erleichterten Einbürgerungen” sowie Möglichkeiten zur doppelten Staatsangehörigkeit sollen zurückgenommen werden. Gerade bei den letzten zwei Vorschlägen frage ich mich, wo da noch der Zusammenhang mit der schrecklichen Tat in Solingen ist. Aber auch zum Thema Abschiebungen braucht es mehr Kontext und Fakten. Abschiebungen nach der Dublin-Regelung sind meistens komplexe Fälle, ich finde, da hilft es nicht einfach “mehr!” zu rufen.
Wie wäre es, wenn ein Politiker wie Merz in dieser Zeit seine Position dafür nutzen würde, machbare und sinnvolle Vorschläge in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen? Wenn er Expert*innen sein Mikrofon reichen würde? Was meinst Du, wie können wir anders mit den Folgen dieses Anschlags umgehen?
Am Ende möchte ich betonen, dass diese Nachricht alle in meinem Umfeld geschockt hat, unabhängig davon, ob mit oder ohne Migrationshintergrund. In diesem Moment muss die Zivilgesellschaft zusammenstehen, den Familien und Freund*innen der Opfer beistehen und den Verletzten Genesung wünschen. Wer in dieser Gesellschaft zusammen leben will, der*die muss sich jetzt gegen alle Formen von Radikalisierung und Extremismus stellen. Wir brauchen einander, und wir sollten uns gegenseitig schützen, denn ohne diesen Zusammenhalt können wir nicht in Frieden leben.