Chancengleichheit im Bildungssystem – eine migrantische Perspektive

kohero Autorin Sevinç hat selbst erlebt, dass das Bildungssystem in Deutschland nicht immer fair ist. Ein Essay über Chancengleichheit, akademische Erfolge und den Glauben an Potentiale.

Fotograf*in: Ivan Aleksic auf Unsplash

Ich erinnere mich noch genau an den Moment in meinem Sozialwissenschaftsunterricht in der 11. Klasse. Das Thema war Chancengleichheit. Meine Lehrerin zeigte eine Karikatur von Hans Traxler und wir Schülerinnen und Schüler sollten dieses Bild kommentieren. Ich fing an, das Bild still in meinem Kopf zu analysieren: Der Lehrer sitzt auf dem Stuhl und gibt den gegenüberstehenden sieben Tieren die gleiche Aufgabe. Sie lautet: “Klettert auf den Baum!” Allerdings könnten die Tiere nicht unterschiedlicher sein. Zu sehen sind ein Affe, ein Vogel, ein Pinguin, ein Elefant, ein Fisch, eine Robbe und ein Hund.

Meine Familie hat einen türkischen Migrationshintergrund. Ich selbst bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. Deutsch lernte ich im Kindergarten, da Zuhause ausschließlich Türkisch gesprochen wurde. Die Grundschulzeit empfand ich positiv. Ein- bis zweimal in der Woche ging ich zum Türkisch-Unterricht. Meine Muttersprache gut zu sprechen war mir wichtig. Für den Türkisch Unterricht, den ich damals hatte, bin ich sehr dankbar.


Quelle: //www.walterherzog.ch/cartoons/chancengleichheit/

 

Brüche im System

Doch dann gab es einen Bruch in meiner Grundschulzeit. In meiner Familie haben wir meine kleine Schwester verloren und durch dieses Ereignis verpasste ich monatelang den Unterricht. Als ich zur Schule zurückkehrte, kam mir alles anders vor. Ich war vorher schon ein eher zurückhaltendes Mädchen gewesen, nach dem Tod meiner Schwester verwandelte ich mich in ein introvertiertes Kind.

Damals habe ich es vielleicht noch nicht ganz verstehen können. Doch als ich im Sowi-Unterricht vor der Karikatur saß, fiel plötzlich der Groschen bei mir: Wie sollen der Elefant, der Vogel, der Pinguin, der Fisch, die Robbe und der Hund auf den Baum klettern? Während nur der Affe es dank seiner angeborenen Fähigkeiten leicht hat, werden die anderen Tiere wahrscheinlich an dieser Aufgabe verzweifeln.

Für mich beschreibt dieses Bild sehr zutreffend die Ausgangssituation im Bildungssystem von Kindern. Ein Kind, das in einer syrischen Familie groß geworden ist, spricht gar kein Deutsch. Ein türkisches Kind hat Zuhause vielleicht nur Türkisch gesprochen, aber hat – so wie ich – im Kindergarten Deutsch gelernt. Ein deutsches Kind ist eben mit der deutschen Sprache geboren. Aber nicht nur Sprachkenntnisse verändern die Voraussetzungen. Auch die soziale Herkunft, Schicksalsschläge, Familiendynamiken… Nur auf den ersten Blick erscheint eine gleiche Aufgabenstellung für alle gerechtfertigt. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass diese Aufgabe unfair ist. Denn nicht alle Schüler*innen haben dieselben Voraussetzungen und Zugänge, um sie zu lösen.

 

Mein Bildungsweg 

Das erste Elterngespräch in der 4. Klasse stand an: Meine Klassenlehrerin sprach mit meinen Eltern über die weiterführenden Schulen, die für mich in Betracht kamen. Sie schlug vor, mich auf  die Haupt- oder Gesamtschule zu schicken. Doch das konnte meine Eltern nicht zufriedenstellen. Sie konnten nicht verstehen, warum ihre Tochter, die keine einzige Vier auf ihrem Zeugnis hatte, plötzlich auf die Hauptschule gehen sollte. Sie fingen an, mit der Lehrerin zu diskutieren und versuchten, sie zu überreden, mir mindestens eine Realschulempfehlung zu geben. Die Lehrerin versprach, dass sie es sich überlegen würde.

Nach diesem Gespräch suchten wir meinen Türkisch-Lehrer auf und baten ihn um seine Einschätzung. Der Türkischlehrer war verwundert über die Empfehlung meiner Klassenlehrerin und sprach meinen Eltern Mut zu, dass sie mich auf die Realschule schicken. Meine Klassenlehrerin gab mir schlussendlich auch eine eingeschränkte Empfehlung für die Realschule. Das heißt konkret: Auf dem Zeugnis standen immer noch Haupt- und Gesamtschule als Empfehlung, daneben stand aber auch Realschule in Klammern. Diese Klammern ignorierten meine Eltern und sie meldeten mich an der Realschule an.

 

“Sie entschieden sich dafür, an mich und an mein Potenzial zu glauben”

In der Realschule kämpfte ich mich mutig durch meinen Schulalltag. Ich lernte, über meine ruhige Art hinauszuwachsen, da die mündliche Leistung zählte. Ich hatte besonderen Spaß im Deutsch-Unterricht. Ich erinnere mich noch genau an den Moment in meiner Realschulklasse, als wir unsere Deutscharbeiten zurückbekamen. Die Lehrerin gab mir meine Klassenarbeit zurück mit der Bemerkung: „Sevinç hat die beste Deutscharbeit geschrieben. Eine Eins Minus!”. Ein Mitschüler kommentierte: „Wie kann die Türkin eine Eins in Deutsch schreiben und ich als Deutscher eine Vier?“. Ich fühlte mich unwohl in der Situation und fast schon schuldig dafür, dass ich eine Eins in Deutsch geschrieben hatte.

Ich beendete die Realschule mit einem Realschulabschluss mit Qualifikation. Anschließend machte ich das Abitur. Ich war an der gymnasialen Oberstufe einer Gesamtschule. Mit der Kombination aus der optimalen Fächerkombination und Fleiß schaffte ich mein Abitur mit einem Durchschnitt von 1,2. Auf mein Abiturzeugnis war ich besonders stolz.

Ich war froh, dass meine Eltern nicht auf meine Grundschullehrerin gehört hatten. Sie hatten den richtigen Riecher. Sie entschieden sich dafür, an mich und an mein Potenzial zu glauben. Im Laufe meines Bildungsweges habe ich das auch gelernt.

 

 

 

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Die Suche nach Gerechtigkeit brachte Sevinç in ihr deutsch-türkisches Jurastudium in Köln und Istanbul. Heute arbeitet sie als deutsch-türkische Juristin und Journalistin. Sie interessiert sich für die Themen soziale Ungleichheiten, Bildungsgerechtigkeit, Migration und Außenpolitik. Sie hat außerdem eine Leidenschaft für die Themen Persönlichkeitsentwicklung, Achtsamkeit und positive Psychologie entwickelt.

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Die Story von Carina, Bassel und Maher

Im Herbst 2015 arbeitete ich noch in einer kleinen Amtsverwaltung und wurde im Rahmen meiner Tätigkeit in der Ordnungsabteilung beauftragt, für die vielen Flüchtlinge Wohnraum zu finden. Das war oft nicht einfach. Viele Neubürger wollten nicht auf dem Land leben oder es gab Probleme beim Zusammenleben wegen unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Und es gab Verständnislosigkeit, wenn Rauchverbot ausgesprochen und Mülltrennung verlangt wurde. Im Dezember 2015 fand ein Willkommensfest für die Flüchtlinge und Einheimischen des Amtsbezirks statt – und dort traf ich Maher und Bassel zum ersten Mal. Maher fragte mich auf englisch, ob er und sein Bruder eine andere Unterkunft zugewiesen bekommen können, da sie seit Oktober in einer Unterkunft- mit 6 weiteren Männern aus Syrien- in einem kleinen Dorf ohne nennenswerte Infrastruktur lebten. Sie hatten Glück, denn ich hatte eine Wohnung im nächsten größeren Ort für sie und zwei weitere Männer aus Syrien frei, so dass sie im Februar 2016 umziehen konnten. Nach dem Umzug war ihr Weg zur Amtsverwaltung kurz, so dass Maher und Bassel häufiger vorsprachen – sei es, weil zu wenig Haustürschlüssel vorhanden waren oder weil die Klingel defekt war. Die Gespräche führte ich grundsätzlich mit Maher – dem Älteren der beiden – auf englisch, denn der jüngere Bruder sprach damals weder englisch noch deutsch. Im Frühjahr 2016 wurde mir immer deutlicher bewusst, dass ich viel zu wenig von unseren Neubürgern wusste. Es war nicht damit getan, ihnen eine möblierte Wohnung zur Verfügung zu stellen. Ich hatte geglaubt, es sei tatsächlich besser, Flüchtlinge in kleineren Orten unterzubringen. Die Vielzahl der dort lebenden Menschen dort zeigten Bereitschaft, sich um neue Nachbarn kümmern zu wollen. Sei es sie mal im Auto in die Stadt mitzunehmen oder ihnen beim Ausfüllen von Formularen zu helfen. Aber selbst wenn Neuankömmlinge mal nicht entsetzt waren, nicht in einer Stadt wohnen zu dürfen, so wurde

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Die Suche nach Gerechtigkeit brachte Sevinç in ihr deutsch-türkisches Jurastudium in Köln und Istanbul. Heute arbeitet sie als deutsch-türkische Juristin und Journalistin. Sie interessiert sich für die Themen soziale Ungleichheiten, Bildungsgerechtigkeit, Migration und Außenpolitik. Sie hat außerdem eine Leidenschaft für die Themen Persönlichkeitsentwicklung, Achtsamkeit und positive Psychologie entwickelt.

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