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Buchtipps für unsichere Zeiten

Mein Name ist Omid Rezaee. Ich bin Journalist bei ZEIT ONLINE, Buchenthusiast und dein persönlicher Buchkritiker. Willkommen zur 12. Ausgabe von migrantisch gelesen – und damit zur ersten Ausgabe im Jahr 2025.

Buchtipps für unsichere Zeiten
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Seit der letzten Ausgabe hat sich die Welt weitergedreht. Und das alles mit einer Geschwindigkeit, die schwer zu greifen ist. Im Bundestag hat die politische Debatte neue Tiefpunkte erreicht, in den USA droht ein Chaos, im Nahen Osten reißen Gewalt und Eskalation nicht ab, in der Türkei verschärft sich die Repression, in Osteuropa verschieben sich Grenzen und Gewissheiten – und auch an vielen anderen Orten geschieht Wandel, von dem wir kaum etwas mitbekommen.

Wenn man eines über all diese Entwicklungen sagen kann, dann wohl dies: Sie haben uns noch unsicherer gemacht – besonders als Migrant*innen, die ohnehin zwischen Systemen, Zugehörigkeiten und Geschichten navigieren müssen.

Was also tun mit dieser Unsicherheit? Ich glaube, man muss der Welt tiefer begegnen – nicht unbedingt intensiver. Auch wenn es mir als Journalist nicht leichtfällt, vom permanenten Nachrichtenkonsum abzuraten, plädiere ich für mehr Ruhe, mehr Innehalten, mehr Zurückhaltung. Vor allem dann, wenn man auf das Weltgeschehen keinen unmittelbaren Einfluss hat.

Für diesen bewussteren Umgang mit der Gegenwart möchte ich dir ein Buch ans Herz legen, das genau dazu einlädt.

Tipp der Woche

Im Schwarm: Ansichten des Digitalen

In „Im Schwarm“ analysiert Byung-Chul Han die Auswirkungen digitaler Kommunikation auf unsere Gesellschaft – und kommt zu einem ernüchternden Befund: Die sozialen Medien fördern einen impulsgetriebenen, affektgeladenen Austausch, der echte Öffentlichkeit und Dialog verdrängt. Statt Tiefe und Reflexion regieren Likes, Shitstorms und endlose Meinungsfragmente. Hans zentraler Appell: Wir sollten lernen, uns der digitalen Reizüberflutung zu entziehen. Weniger Reaktion, mehr Kontemplation. Nur durch bewusste Zurückhaltung lässt sich ein Raum schaffen, in dem wieder echte Begegnung und politischer Diskurs möglich sind. Gerade in Zeiten von Dauerempörung und algorithmisch befeuerter Aufmerksamkeitsökonomie ist dieser Gedanke aktueller denn je. Im Schwarm ist kein Rezeptbuch – aber ein stilles Plädoyer für mehr Nachdenklichkeit im digitalen Rauschen.

Manchmal ist es nicht die große politische Analyse, die uns die Welt näherbringt, sondern eine persönliche Geschichte, in der sich all das spiegelt, was wir kaum in Worte fassen können: Entwurzelung, Sprachverlust, Wut, Scham, Zärtlichkeit. „Good Girl“ von Aria Aber ist ein solcher Roman – poetisch, vielschichtig und schonungslos. Er führt uns an die Bruchstellen einer migrantischen Existenz, an die Grenzen familiärer Erwartungen und mitten hinein in die Frage, wie man in einer Sprache heimisch werden kann, die einem nie ganz gehört.

Good Girl

In „Good Girl“ erzählt Aria Aber mit schnörkelloser Eleganz von einer jungen Frau zwischen Sehnsucht, Herkunft und Selbstverlust. Nila, aufgewachsen in der Gropiusstadt, taumelt durch Berlin. Sie bewegt sich zwischen Plattenbau, Poesie, Party und patriarchaler Kunstwelt. Als sie auf den berühmten Schriftsteller Marlowe trifft, öffnet sich eine Tür zur Hochkultur – und eine Falle.

Aber schreibt mit kühler Klarheit und schneidender Intelligenz über Begehren, Macht und die Versuchung, sich selbst zu verraten, um dazuzugehören. Ein wilder, dunkler, kluger Roman über das, was wir für Anerkennung opfern – und was davon bleibt.Die Suche nach Zugehörigkeit, das Ringen mit biografischen Brüchen, der Versuch, sich inmitten politischer und familiärer Spannungen zu verorten – all das sind nicht nur literarische Motive, sondern hochaktuelle Fragen. Gerade in Zeiten, in denen die Debatte um Identität, Männlichkeitsbilder und migrantische Narrative wieder einmal vereinfacht oder instrumentalisiert wird, lohnt es sich, genauer hinzusehen. Ein weiterer Roman, der diese Themen aufgreift – schmerzhaft, direkt, und aus einer Perspektive, die selten im Mittelpunkt steht.

Sohn ohne Vater

In „Sohn ohne Vater“ nimmt Feridun Zaimoglu seine Leser*innen mit auf eine Reise durch Länder, Erinnerungen und Widersprüche. Der Tod des Vaters ist der Auslöser – nicht nur für eine Fahrt im Wohnmobil von Kiel in die Türkei, sondern für eine intensive Auseinandersetzung mit Herkunft, Trauer und der unaufhaltsamen Nähe zur Mutter. Der Ich-Erzähler schwankt zwischen Widerwillen und Verpflichtung, zwischen Stolz und Schmerz.

Zaimoglu erzählt mit Wucht, Pathos, Witz und sprachlicher Hingabe. Erinnerungen flackern auf, Träume vermischen sich mit Realem, und selbst auf dem Rücksitz eines klapprigen Campers ist die Frage nach Zugehörigkeit allgegenwärtig. Ein melancholischer, kraftvoller Roman über Väter, Söhne und die Orte, an denen man vielleicht nie ganz ankommt.

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