„Meine persönliche Überzeugung ist, dass wir selbst Held*innen unserer eigenen Geschichte sind und dass auch Chaos und Leid zu unserer Lebensgeschichte gehören, weil sie uns im besten Fall die Möglichkeit zur Entwicklung geben. Ich glaube daran, dass Geschichten Vielfalt sichtbar machen, Vorurteile abbauen und Empathie verstärken können.“ Isabel Nasrin Abedi, geboren 1967 in München, ist Deutsch-Iranerin. Sie wuchs in Düsseldorf auf, lebt nun mit ihrer Lebensgefährtin in einem alten Bahnhof am Hamburger Stadtrand und arbeitete in ihrem ersten Berufsleben 13 Jahre als Werbetexterin. Doch sie fühlte sich in diesem Job nicht zu Hause.
„Meine Mutter ist mein stärkster Rückenwind“
„Ich spürte, dass ich meine Kreativität nicht für Kommerz verbrauchen, sondern meine eigenen Geschichten erzählen wollte.“ Als Kinder- und Jugendbuchautorin sowie Übersetzerin ist sie jetzt aktiv. Zusätzlich begleitet sie die „Schreibsisters“ von Sisters Network beim „Schreiben, was uns bewegt.“
Isabel verbrachte ihre Kindheit bei ihren deutschen Großeltern. Ihr iranischer Vater verließ ihr Leben am Tag ihrer Geburt und ihre Mutter war zu dieser Zeit noch in Ausbildung und später berufstätig. Trotz dieser Herausforderungen entwickelte sie eine enge Bindung zu ihrer Mutter, die später selbst aus der Werbebranche ausstieg und ihren eigenen Buchladen eröffnete. Diese Entscheidung inspirierte Isabel, ihren Weg in die Welt des Schreibens zu finden. Sie bezeichnet ihre Mutter als „meinen stärksten Rückenwind und meine glühendste Leserin. Meine Mutter hat mir gezeigt, was möglich ist, wenn wir an unsere Träume glauben.“
Die Lücke, die ihr Vater in ihrem Leben hinterließ, verarbeitete Isabel in ihren Kinder- und Jugendbüchern: „Meine Kindheit war geprägt vom fehlenden Vater. In meiner deutschen Familie wurde er verschwiegen, ebenso wie mein Vaterland Iran. Der Vater meiner eigenen Kinder ist Brasilianer und dieser Teil unserer Familiengeschichte inspirierte mich zu der Lola-Reihe. Unbewusst schrieb ich meiner kindlichen Protagonistin den Vater herbei, den ich als Kind selbst gerne gehabt hätte.“
Isabel glaubt fest daran, dass Geschichten trösten, ein Zuhause bieten und die Vielfalt in der Welt sichtbar machen können. In den 80er Jahren floh ihr ältester Halbbruder aus dem Iran, um dem Krieg zu entkommen. Dies wirkte sich auf ihr eigenes Lebensgefühl aus. Das Tabu, das in ihrer deutschen Familie bezüglich dieser Themen herrschte, führte in ihr, wie sie selbst sagt, zu einer starken Verwirrung.
In ihre Bücher ließ sie diese Erfahrungen und Emotionen einfließen und stellte sie in einen größeren Kontext – auch wenn es zunächst unbewusst war. Diese Art der kreativen Verarbeitung kann eine Möglichkeit sein, mit solch komplexen Themen umzugehen und sie für sich selbst und andere zu reflektieren. Es ist auch bemerkenswert, dass es eine literaturwissenschaftliche Analyse ihrer Jugendromane gibt, die sich mit dem Konzept des Fremden in ihren Werken auseinandersetzt.
„Ich entdecke Rumi neu“
Isabel ist nicht nur eine talentierte Autorin, sondern auch eine engagierte Aktivistin, die die Kraft von Geschichten nutzt, um Verständnis und Empathie zu fördern. Ihr Lebensweg und ihre Überzeugungen sind inspirierend und erinnern uns daran, wie Literatur und persönliches Engagement die Welt positiv beeinflussen können.
Sie setzt sich entschieden gegen Rassismus und Queer-Feindlichkeit ein und ermutigt dazu, für „Frau Leben Freiheit“ zu kämpfen. Sie lässt sich von starken Persönlichkeiten und Musiker*innen inspirieren, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, und betont die Bedeutung von Gemeinschaft und Solidarität.
Ihre intensive Auseinandersetzung mit Literatur aus und über den Iran zeigen ihre Wertschätzung für ihre kulturellen Wurzeln und ihre Neugier auf die reiche Geschichte und zeitgenössische Literatur dieser Region. „Ich entdecke Rumi neu, Omar Khayyam, Hafes, und zeitgenössische Dichterinnen wie Forough Farrokzhad.“
Der Mut und die Stärke der Menschen im Iran berühren sie tief. „Ich bin so dankbar, dass die aus dem Gefängnis kämpfende Frauenrechtlerin Narges Mohammadi den Friedensnobelpreis erhalten hat – und für die Symbolkraft, die dieser Preis verkörpert. Ich bewundere Musiker wie Toomaj Salehi, Shervin Hajipour oder auch den in Deutschland lebenden israelischen Singer-Songwriter Ben Salomon, der Baraye gecovert hat.“
„Die Geschichten der Schreibsisters bewegen und berühren mich zutiefst“
Zudem motiviert sie die Gemeinschaft, die sie mit Gleichgesinnten hier in Deutschland erlebt, und die Gemeinschaft der Schwestern bei Sisters Network. „Der Zusammenhalt und die Vielfalt dieser jungen Frauen bewegt und bereichert mich“, sagt Isabel.
Sie betont, dass ihr in öffentlichen Diskussionen vor allem die „Own Voices“ fehlen. „Für mein Gefühl können persönliche Erfahrungen und Geschichten oft viel eindringlicher und emotionaler auf die Zuhörenden wirken als trockene Fakten und Statistiken.“ Ihre Erfahrungen bei den Lesungen mit den Schreibsisters und die Reaktionen des Publikums zeigen, wie wichtig es ist, diese Geschichten zu teilen und Menschen die Möglichkeit zu geben, die Gefühlswelt und die Erlebnisse junger Frauen, die drastische Veränderungen in ihrem Leben erfahren haben, zu verstehen. Diese Geschichten berühren die Herzen und schaffen Empathie; sie verdeutlichen die Vielschichtigkeit und den menschlichen Aspekt dieser Themen.
„Die Geschichten der Schreibsisters bewegen und berühren mich zutiefst. Und ich bin eng verbunden mit den Sisters von Sisters Network. Durch sie habe ich auch Menschen aus anderen kulturellen Backgrounds näher kennengelernt. Hier verbinden sich afghanische, iranische, irakische, jesidische, kurdische, syrische, palästinensische, marokkanische, brasilianische, kamerunische, italienische und deutsche Stimmen. Mich beschäftigt und beschenkt die Vielfalt und die Gemeinschaft dieser jungen Frauen sehr.“
„Individuelle Geschichten haben die Kraft, tiefgehende Verbindungen herzustellen und Verständnis zu fördern, und sie sind unverzichtbar, um ein umfassendes Bild von Flucht und Migration zu zeichnen. Es ist wichtig, dass solche Geschichten in öffentlichen Diskussionen und Medien einen Platz haben, um die Vielfalt der Erfahrungen und Perspektiven in dieser Thematik zu reflektieren“, fügt sie hinzu.
„Und die Tür öffnete sich für mich“
Außerdem erzählt Isabel: „Die Herausforderungen von Geflüchteten und Migrant*innen haben mir meinen eigenen kulturellen Hintergrund erst richtig bewusst gemacht. Im Sommer 2019 kamen die Sisters von Sisters Network zu mir nach Hause, weil sie mehr über das Leben einer Schriftstellerin erfahren wollten. Und die Tür öffnete sich an diesem Nachmittag vor allem für mich. Die jungen Frauen brachten mir Geschichten aus meiner fremden Heimat, und ich lernte, die Flucht meines Halbbruders besser zu begreifen und zu verarbeiten. Es entstand für sie zum ersten Mal ein Gefühl von Zugehörigkeit.“
Diese empfindet sie seit dem Mord an Jina Mahsa Amini und der Revolution auch zu vielen anderen Menschen aus der Diaspora. „Obwohl wir unterschiedlich aufgewachsen sind, verbindet uns mehr, als ich es für möglich hielt. Unbewusst hatte ich schon immer eine große Empathie für Geflüchtete und Menschen mit Migrationsgeschichte. Jetzt weiß ich warum. Immer wieder spüre ich: Diese Menschen nehmen uns in Deutschland nichts weg. Im Gegenteil, sie haben so viel zu geben.“
Diese Wertschätzung findet sich auch in den Kinder- und Jugendbüchern der Autorin wieder. „In vielen meiner Bücher spielen queere Menschen eine Haupt- oder Nebenrolle, und in meinem jüngsten Kinderbuch ‚Mucks Maus und Missjö Katz‘ geht es um eine Maus mit Migrationsgeschichte und einen geflüchteten Kater, die sich in einer Menschenfamilie mit zwei schwulen Vätern zusammenraufen müssen.“
„Für andere da sein können wir nur, wenn wir in uns selbst sind“
Mucks Maus und Missjö Katz ist eine Parabel über das Zusammenleben und was Leser*innen daraus mitnehmen können, zeigt unter anderem diese Rezension: „Ein Zuhause, in dem jede und jeder leben und glücklich sein kann, wäre doch schön. Das zeigt diese herzerfrischende Geschichte von Isabel Abedi, die Ina Hattenhauer so wunderbar in Szene gesetzt hat, dass man gar nicht genug bekommen kann von den Bildern. Noch schöner wäre es, wenn die ganze Stadt, ja das ganze Land, so offen und tolerant wären. Aber die Erfahrungen von Mucks Maus und Missjö Katz könnten lehren, wie gut es ist, wenn Feindschaften überwunden werden. Das gilt schon im Kindergarten und auch in der Schule.“
Zur letzten Frage, ob es einige wichtige Lehren oder Ratschläge gibt, die ihr im Laufe ihres Lebens geholfen haben, sagt Isabel: „Die Journalistin und Autorin Gilda Sahebi (‚Unser Schwert ist Liebe‘) beschrieb einmal sehr schön, dass alles Gute, was wir tun, sagen oder auch nur denken – es kann die kleinste Geste sein – zum Samen wird, der irgendwo landen und zu einer Blume oder einem starken Baum wachsen kann.“
„Durch eigene Erfahrung lernte ich, dass aktivistischer Einsatz und ständige Erreichbarkeit kein unerschöpflicher Quell sind, und dass es immer wieder Schutzräume braucht, in denen wir tanken und zu uns selbst zurückfinden müssen. Denn für andere da sein können wir nur, wenn wir in uns selbst sind. Und von einem indischen Sufi-Meister teilte ich in meinem Kinderbuch Mucks Maus und Missjö Katz den Satz: Ein Haus wird gebaut, ein Zuhause aber wird geformt.“
Bildquellen
- Isabel Abedi: Sarah Schüddekopf