„Ein großes Thema, das bei allem, was ich mache, darüber steht, ist radikale Gleichberechtigung. Dass alles als gleich angesehen wird, also eine multiperspektivische Gleichheit von allen Menschen.“ Dan Thy Nguyen (38) ist freier Theaterregisseur, Schauspieler, Schriftsteller, Sänger, Essayist, gründete und leitet das fluctoplasma – das Hamburger Festival für Kunst, Diskurs und Diversität.
Mit seiner Forderung nach radikaler Gleichheit liegt es nicht fern, dass das diesjährige fluctoplasma unter dem Motto „crush your egosystems“ steht. Zum 4. Mal stehen ab Donnerstag wieder vielfältige Künstler*innen, Speaker*innen und Kollektive auf den Bühnen. „Bei uns geht es um Kultur, Demokratie und Solidarität“, heißt es auf der Website des Kunstfestivals. Das gilt nicht nur für die Artists, sondern auch für das Organisationsteam. Neben all dem Logistischen, das bei einem Festival organisiert werden muss, stehen für Dan Thy die Menschen besonders im Vordergrund.
All die Perspektiven und Persönlichkeiten als Team zusammenzubringen und Bedürfnisse wahrzunehmen, ist in diesen Tagen Dan Thys größte Aufgabe. „Ich bin wie ein Maulwurf mit einem Hammer – ich grabe mich gerne ein und wenn ich dann mal wichtig bin und gebraucht werde, dann mache ich action.“
Nicht immer hatte Dan Thy so viele Menschen wie heute um sich herum, die mit ihm gemeinsam für ein Miteinander einstehen. „Die allerersten Jahre in Hamburg war ich komplett alleine. Ich hatte aber das Glück, im Laufe meines Lebens dann viele tolle Menschen zu treffen“, erinnert sich Dan Thy.
„Ich glaube, das Studium hat mich am meisten politisiert“
Mitte der 2000er Jahre beginnt er, Islamwissenschaften zu studieren und belegt Kurse für Arabisch, Türkisch und Farsi. „Ich glaube, das Studium hat mich am meisten politisiert“, sagt er. Es ist aber auch die Auseinandersetzung mit seiner eigenen Lebensgeschichte, die Dan Thy prägt. „Ich komme aus einer sehr konservativen Familie, die stellenweise auch ein bisschen rassistisch war. Meine eigene Familiengeschichte, nicht nur die Flucht- und Migrationsgeschichte, auch die Auseinandersetzung mit dem politischen Denken in meiner Familie und der Widerstand gegen ihre Überzeugungen, haben mich sehr geprägt“, erzählt er. Und auch in linken Diskursen fehlt ihm die Auseinandersetzung mit Diskriminierung unter marginalisierten Gruppen: „Antirassismus bedeutet, genau hier tiefer reinzuschauen und festzustellen, wo Rassismus reproduziert wird.“
Antirassismus in Kunst und Kultur
Dan Thy wächst in einer Zeit auf, in der Kunst noch nicht so politisch wie heute war. In seinem Umfeld waren viele Menschen von Kunst und Kultur enttäuscht; es gab viele identitätspolitische Kämpfe, so Dan Thy. Die wichtigste Forderung dabei war, antirassistische Strukturen gesamtgesellschaftlich zu schaffen. „Wir müssen da mit allen Menschen, und dazu gehören auch PoC-Perspektiven, dran arbeiten. Du siehst, ich bin eher der Reformer, als ein Revolutionär.“
Besonders als 2015/16 Tausende Menschen nach Europa flüchten, sucht Dan Thy nach einer aufrichtigen und nachhaltigen Form von Solidarität. „Wie können wir Strukturen der Solidarität aufbauen, damit wir diese nicht nur kurz auf Demos offenbaren, sondern Infrastrukturen für Antirassismus bauen?“ „Sind die etablierten Kultur- und Bildungsinstitutionen im Sinne einer gleichberechtigten Gesellschaft reformierbar?“, fragt er sich. Es ging ihm auch darum, Kulturarbeit mit Antirassismus und Antisemitismus zu verbinden. Seine Antwort auf diese Fragen ist 2020 die Gründung des Studio Marshmallows und des fluctoplasmas. Der Gedanke von Repräsentation und radikaler Gleichberechtigung bekommt eine Bühne – oder gleich mehrere, verteilt in Hamburg.
Doch was kommt nach der Repräsentation? Diese Frage hat sich Dan Thy schon in der kohero Printausgabe 8: „Wem gehört Schönheit?“, gefragt. Eine Antwort hat er noch nicht, dafür aber neue Fragen: „Ich glaube, dass Repräsentation, oder eine Repräsentationsquote, nur ein Tool ist, um Sichtbarkeit zu schaffen. Aber ich frage mich manchmal, was nach den Geschichten von Flucht und Migration kommt. Was passiert, wenn diese Geschichten zur Norm geworden sind und wir nur noch menschliche Geschichten erzählen?“ Doch dafür müsse man die komplette Wissensstruktur aufbrechen, damit nicht nur über nationale, sondern über globale Geschichte gesprochen und gelehrt wird.
Nach dem aktuellen fluctoplasma wird sich das Studio Marshmallow einem Forschungsschwerpunkt bezüglich Diversität in Ost- und Westperspektiven widmen. „Wir glauben, dass der Großteil des Diversitäts- und Antirassismus-Diskurses ein westdeutscher ist. Man könnte auch sagen, ein westeuropäisch oder anglo-amerikanisch geprägter Diskurs. Da wollen wir unseren Festivalansatz nutzen, um Austausch zu schaffen. Wir müssen die Perspektiven aus Ostdeutschland und dem sogenannten Osteuropa dazuholen, um wirklich über Diversität sprechen zu können“, sagt Dan Thy.
„Die politische Seite von Superheldencomics interessiert mich sehr“
Der private Dan Thy macht gerne Musik aus Sounds von Wäscheständern und Geigenbögen, übt Blockflöte und entspannt sich mit Horrorfilmen. Wirklich trennen kann man das Private und das Politische in ihm aber nicht. Er erzählt: „Mich haben nicht nur mein Studium und meine eigene Migrationsgeschichte politisiert, sondern auch jüdische und Exilliteratur und insgesamt meine literarische Arbeit. Das führt häufig dazu, dass ich nicht von meinen beruflichen Themen abschalten kann, weil die eben so spannend sind.“
Um mal wirklich runterzukommen, greift Dan Thy eher zu Superheldencomics. „Die mochte ich übrigens, bevor sie cool wurden“, wirft er ein und lacht. Doch er wäre nicht Dan Thy, wenn er nicht auch den Kampf für Gleichberechtigung von Charles Xavier von den X-Men mit Martin Luther King und Malcolm X in Verbindung setzen würde.