„Sollte Europa ehemals kolonisierte Länder entschädigen?“
„Kann man heute noch mit gutem Gewissen im Mittelmeer schwimmen?“
„Brauchen wir ein gesellschaftliches Pflichtjahr?“
Zu diesen und vielen anderen Fragen diskutieren Menschen bei Hummustopia, einer Veranstaltungsreihe, die Avraham Rosenblum seit 2019 organisiert. „Die Idee ist ganz simpel“, erklärt Avraham: „Jeweils zwei Menschen sitzen zusammen, teilen Essen und diskutieren über ein Thema, das ihnen zugelost wird.“ Unterschiedliche Ansichten und angeregtes Diskutieren sind ausdrücklich erlaubt – nur eine Regel gibt es: zum Schluss sollen die Teilnehmer*innen eine Gemeinsamkeit in ihren Meinungen finden, egal wie klein sie ist.
Beim ersten Hummustopia 2019 diskutieren die Teilnehmer*innen über Impfungen – schon damals ein polarisierendes Thema, und vieles lief noch nicht so, wie Avraham es sich gewünscht hatte: „Viele waren sehr emotional und haben sich angegriffen gefühlt, trotz der Konfliktberaterin, die anwesend war.“ Also ändert Avraham das Konzept: „Jetzt führen wir Hummustopia meist im öffentlichen Raum durch, also zum Beispiel bei Stadtfesten. Und die Leute mussten sich mit einer fremden Person an den Tisch setzen. Seitdem läuft es viel besser.“ Sagt Avraham zufrieden.
Was ihn zu diesem Projekt bewogen hat? „Ich liebe Hummus, und ich bringe gerne Menschen zusammen.“ Die viel beschworene Spaltung der Gesellschaft beobachtet Avraham schon, seitdem er 2007 von Israel nach Deutschland emigrierte. Aufgewachsen ist Avraham in der Nähe von Haifa, eine gemischte Stadt, in der Christen, Muslime und Anhänger*innen anderer Religionen wie Drusen und Bahai leben. Eine komische Zeit sei das gewesen, sagt Avraham: „In meiner Kindheit gab es noch Hoffnung auf Frieden mit den Palästinensern. In Kindergartenliedern und auf Festen ging es immer um Frieden.“ 1994 erhalten die Israels Ministerpräsident Rabin, der palästinensische Politiker Arafat und der israelische Außenminister Peres für ihre Bemühungen im Friedensprozess gar den Friedensnobelpreis.
„Ich liebe Hummus, und ich bringe gerne Menschen zusammen.“
Doch dann wird Rabin von einem rechtsradikalen jüdischen Studenten erschossen. Mit der Wahl von Benjamin Netanjahu zum israelischen Präsidenten 1996 steigt der Rechtspopulismus im Land. Avraham arbeitet zu der Zeit als Theaterproduzent in einem Kulturzentrum, „eine Art Mini-Kampnagel“, beschreibt er es. Frustriert mit der politischen und gesellschaftlichen Lage Israels beschließt er, das Land zu verlassen und zu seiner Freundin nach Hamburg zu ziehen.
„Anfangs zog ich ins wohlhabende Eppendorf und dachte, hey, Deutschland! Allen geht es gut hier.“ Auch von den angeblich 45 % Migrant*innen in Hamburg merkt Avraham anfangs nichts. Erst als er die Arbeit in einer Küche beginnt, bröckelt dieses Bild: „Wenn ich morgens um 6 zur Arbeit fuhr, war mein Viertel plötzlich interkulturell.“ Je länger Avraham in Deutschland wohnt, desto mehr merkt er, dass die Gesellschaft Deutschlands ähnlich ungleich ist wie in Israel. „Es gibt viele unsichtbare Menschen in Deutschland – Menschen, die nachts die Arbeit machen, die sonst niemand übernehmen will. Jene, die tief im Integrationsprozess stecken, oder die, die nach der Arbeit zu erschöpft sind, um sich in eine Kneipe zu setzen.“
„Es gibt viele unsichtbare Menschen in Deutschland“
Avraham arbeitet heute in der Zinnschmelze. Dort ist er für die Gestaltung interkultureller Projekte verantwortlich, zum Beispiel die Dokumentation „un/sichtbar“. Sie porträtiert vier Menschen und ihre prekären Arbeitsbedingungen, die kaum jemand sieht. Auch das Hummustopia-Projekt führt er weiterhin, und diese Arbeit macht ihn extrem glücklich, sagt er.
Für das deutsch-israelische Verhältnis wünscht Avraham sich mehr Austausch und gemeinsame Projekte. Denn im Moment seien es vor allem rechtspopulistische Parteien wie die AfD, die die Nähe zur Israel ausnutzen, um den Rassismus-Vorwurf von sich zu weisen. Auch in der Beurteilung Israels beobachtet Avraham oft Überheblichkeit in Deutschland. Er selbst muss sich bis heute mit Rassismus und fehlplatzierter Neugier auseinandersetzen: an das jüdische Café, in dem er arbeitete, sprühte jemand ein antisemitisches Graffiti.
Anstatt der Frage nach seiner Herkunft und nach seiner Position im Nahostkonflikt wünscht Avraham sich mehr ernsthaftes Interesse an seiner Person: „Lade mich doch erstmal auf ein Bier ein, vielleicht werden wir Freunde und dann kannst du mich sowieso alles fragen.“ Sei es die israelisch-deutsche Beziehung, der Alltag oder Projekte auf der Arbeit – für Avraham sind es Begegnungen auf Augenhöhe, die zeigen können, dass der Spalt in der Gesellschaft vielleicht weniger groß ist, als wir denken mögen.
Die nächste Hummustopia Veranstaltung findet im Rahmen des flucto.plasma Festivals am 28. Oktober im MARKK statt.