Es beginnt mit dem titelgebenden Horizont. In einem dunklen Raum begrüßt Gerhard Richters Gemälde „Seestück (bewölkt)“ von 1969 die Besuchenden. Es zeigt eine aus zwei Fotografien zusammengesetzte Landschaft aus dem wild bewölkten, stürmischen Himmel über Düsseldorf und dem aufbrausenden Meer vor Ibiza. Kein Fixpunkt bietet Orientierung. Was hinter dem Horizont liegt? Man weiß es nicht.
Die Ausstellung zeigt keine umfassende Geschichte der Migration. Sie beleuchtet vielmehr ihre Motive – Aufbruch, Wege, Ankunft, Zukunft. Und lädt zum Assoziieren und Fragenstellen ein.
Vom Aufbrechen
Die Geschichte der Menschheit wird seit jeher von Migration vorangetrieben. Ausgestellt sind verschiedene Steinzeitwerkzeuge, darunter ein Faustkeil aus Thüringen. Die ältesten solcher Keile sind 1,75 Millionen Jahre alt. In Mitteleuropa entstanden die ersten vor etwa 600.000 Jahren. Auch als der Mensch sich bereits in Siedlungen niedergelassen hatte, kam Fortschritt erst durch Bewegung.
Der Aufbruch in ein neues Leben, einen neuen Ort, ist immer einschneidend und mit Fragen verbunden: Wird mein Leben dort, wo ich hingehe, ein besseres?
Eine junge Zimmerin auf der Walz, das Porträt einer deutschen Auswandererfamilie in Michigan illustrieren verschiedene Gründe, warum Menschen ihr Zuhause verlassen und sich aufmachen.
Die Ausstellung spannt den Bogen zurück in biblische Zeiten. Die Geschichte von Josef, Maria und Jesus ist eine der Migration. Gegenüber voneinander hängen ein Gemälde der Heiligen Familie auf der Flucht vor König Herodes nach Ägypten mit Esel, und eine Fotografie aus dem Flüchtlingslager Oure Cassoni, Tschad. Die 26.000 Menschen dort waren vor dem Bürgerkrieg im nahegelegenen sudanesichen Darfur geflohen.
Neue Wege gehen
Nach dem Aufbrechen folgt der Weg ins Ungewisse, oftmals ein gefährlicher. Ob der irrende Odysseus oder die biblische Geschichte des Durchzugs durchs Rote Meer. Erzählungen von Flucht wurden über die Geschichte der Menschheit hinweg weitergegeben – und werden auch heute erzählt. Wie etwa durch das 2019 im Flüchtlingslager Moria geschaffene Gemeinschaftsgemälde „Modern Moses“; in der Ausstellung akzentuiert durch ein großformatiges Gemälde, welches die Flucht der jüdischen Menschen aus Ägypten zeigt. Wer ist heute Mose? Der das Meer teilt, den Weg frei macht? Und wohin führt dieser?
Der Raum in diesem Bereich der Ausstellung steht jungen Artists-in-Residence, vielen von ihnen mit eigener Flucht- oder Migrationsgeschichte, zur Verfügung. Sie visualisieren in ihren Werken ihre Assoziationen zum Thema.
Wann ist man angekommen?
Migrations- oder Fluchterfahrungen prägen das Leben und die Biografie, nicht nur derer, die sich auf den Weg machten, sondern auch die nachfolgenden Generationen.
Wie in einem Nebel, hinter einem dünnen, weißen Vorhang, liegt das Neue. Auch hier zeigt Horizonte verschiedene Perspektiven auf: Jüdische Kinder, die sich vor den Nationalsozialist*innen nach London retteten, symbolisiert durch einen kleinen Bären mit Hut, Mantel und Marmeladensandwich. Bewegend schildert Judith Kerr ihre Familiengeschichte in Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, das ebenso einen Platz in der Ausstellung findet, wie das Manuskript ihres Vaters Alfred Ich kam nach England.
Deutsche Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich in einem besiegten und zerstörten Deutschland eine neue Existenz aufbauten. Ein ihnen fremdes Ursprungsland, hatten es ihre Familien doch Jahrhunderte zuvor verlassen. Manche hegten zu Beginn noch Hoffnung auf Rückkehr, doch bald mussten sie sich mit ihrem neuen Leben arrangieren.
Etwa fünfzehn Jahre später kamen die ersten „Gastarbeiter*innen“ aus Ländern wie Italien, Griechenland und der Türkei nach Deutschland und wurden zu einem integralen Teil unserer Gesellschaft.
All diese Geschichten machen nachdenklich. Wann ist man angekommen? Wie definieren wir Zugehörigkeit? Wo finden Traditionen einen Platz im neuen Leben? Woran festhalten? Die Künstlerin Ayşe Gülsüm Özel schaffte Hände, die, nicht nur sinnbildlich, alltägliche Dinge festhalten. Erinnerungsstücke ehemaliger türkischer Gastarbeiterinnen. Blumen, Briefe, Kleidung. Unweigerlich fragt man sich: Was würde ich mitnehmen?
Nicht ganz so ferne Zukunft
Mehr Menschen denn je sind auf der Flucht. Weltweit gab es 2022 rund 103 Millionen gewaltsam Vertriebene. Die Klimakrise wird diese Entwicklung noch verstärken.
Im letzten Jahrhundert begann die Menschheit, auch den Weltraum und andere Planeten zu entdecken – man denke an John F. Kennedys Moonshot-Rede. Heute lesen wir von Weltraumtourismus und Marskolonien. Was vor wenigen Jahrzehnten noch Science-Fiction war, wird greifbarer.
Doch wie geht es hier auf der Erde weiter? Eindrucksvoll stellt die Ausstellung die Perspektive auf Erde und All dar. Im großen schwarzen Nichts blickt man auf diese kleine, blaue Kugel, auf der sich seit Jahrtausenden Geschichten von Gehen und Ankommen abspielen und man fragt sich: Wie wird unser Leben in den nächsten Jahrzehnten aussehen? Wenn Ressourcen knapper werden? Manche Regionen unbewohnbar werden? Und sich immer mehr Menschen auf den Weg machen? Wie können wir vor diesem Hintergrund solidarisches Zusammenleben gestalten? Antworten auf diese Fragen wird gerade unsere Generation in den nächsten Jahren finden müssen.
Beim Hinausgehen schweift der Blick nochmals in Richtung Gerhard Richters Gemälde. Das aufgewühlte Meer, das es zu überwinden gilt. Dieses Meer, das für viele Geflüchtete unüberwindbar bleibt; allein seit Anfang dieses Jahres ertranken mehr als 1000 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer.
Und die Welt hinter dem Horizont, noch immer unbekannt. Doch sie gilt es zu entdecken und zu gestalten. Gerecht und gemeinsam.
„Horizonte – Geschichten und Zukunft der Migration“, zu sehen bis 10. September im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg.
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