Seenotrettung: ein tödliches Politikum

Am Mittwoch sind mindestens 500 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer in griechischen Gewässern ertrunken. Die Behörden in Griechenland haben von dem Vorfall gewusst, die Flüchtenden aber nicht aus der Seenot gerettet

Dunkle Meeresoberfläche
Fotograf*in: Conor Sexton auf Unsplash

Ein Fischerboot mit 750 Menschen an Bord ist am Mittwoch vor Pylos in Seenot geraten und gekentert. Das Boot kam aus Libyen, die Flüchtenden wollten wahrscheinlich über die Mittelmeer-Route nach Italien. Nur rund 100 von ihnen konnten gerettet werden. Viele werden noch vermisst. Bereits am Dienstag wurde das überfüllte Fischerboot lokalisiert. Die griechischen Behörden hätten sofort handeln müssen. Stattdessen sei es stundenlang nur beobachtet worden. Die Küstenwache behauptet, die Menschen auf dem Fischerboot hätten jede Hilfe abgelehnt. Das Boot habe nach Italien weiterfahren wollen, so der Sprecher der griechischen Küstenwache. 

Bamdad Esmaili berichtet für den WDR aus Griechenland über das, was später viele als  “Unglück” bezeichnen, seinem Kollegen gegenüber hätten mehrere Überlebende unabhängig voneinander berichtet, dass von der griechischen Küstenwache versucht wurde, das Boot mit den flüchtenden Menschen in italienische Gewässer zu ziehen: Das Boot wurde gepushbackt. So kam es den Berichten nach zu der Katastrophe. 

Diskriminierende Strukturen unter den Flüchtenden

Nach Überlebenden wurde dem WDR nach am Donnerstag noch gesucht, die Überlebenschancen sind zum jetzigen Zeitpunkt überaus gering. Mehr als 500 Menschen sind wahrscheinlich ertrunken, unter ihnen alle Kinder und Frauen, die sich an Bord befanden. Schilderungen der Überlebenden zufolge seien ungefähr 100 Kinder auf dem Boot gewesen, die sich gemeinsam mit den Frauen im Zwischendeck und am Rumpf befanden und das kenternde Boot nicht rechtzeitig verlassen konnten. Die insgesamt 104 Überlebenden wurden in Kalamata in der Region Peloponnes untergebracht, einige befinden sich noch im Krankenhaus.

Von den geretteten Menschen werden 9 Männer aus Ägypten verdächtigt, als Schlepper auf dem Boot gewesen zu sein. Überlebende berichten, dass nicht nur Frauen und Kinder von diesen unter Deck gezwungen wurden – auch Menschen aus Pakistan wurden dort vermutlich eingesperrt. Lokalmedien berichteten von mindestens 300 bis 400 pakistanischen Menschen, die gestorben sind. Nur 12 haben überlebt. Dies zeigt, wie rassistische Strukturen auch unter Flüchtenden wirken.

Verschiedene Medien berichten im Zuge der Katastrophe auch über die Menschen, die Angehörige unter den Überlebenden haben. Besonders präsent ist die Geschichte zweier Brüder aus Syrien, die sich in Griechenland wiedersehen. Der ältere von beiden lebte bereits in Holland und kam nach Griechenland, als er von der Situation erfuhr. Auf einem Bild, das in den Medien kursiert, umarmen sich die beiden durch Gitterstäbe hindurch. Es ist berührend. Und es ist wichtig, dass die Berichterstattung diese Emotionen einfängt. Doch zu viele Menschen werden ihre Angehörigen eben nicht mehr wiedersehen. Und daran ist die Abschottungspolitik der Europäischen Union Schuld. 

Seenotrettung als Thema im griechischen Wahlkampf

Der Umgang der griechischen Regierung mit nach Europa flüchtenden Menschen ist bekannterweise perfide. Während noch über die Frage der Verantwortung  am Mittwochmorgen diskutiert wird, wurde ein Video der Alarm-Phone-Initiative, bei der sich Freiwillige für die Seenotrettung einsetzten, veröffentlicht. Auf dem Video sieht man, wie ein gefesselter Mann am Fluss Evros zurückgedrängt wird – Pushbacks. Auch PRO ASYL und LeaveNoOneBehind berichten von Rückführungen und Gewalt gegenüber Geflüchteten in dieser Region. All das ist illegal.

Nach dem Vorfall am Mittwoch demonstrierten Tausende Menschen in Griechenland gegen die Asylpolitik der griechischen Regierung. Am 25. Juni stehen die Parlamentswahlen bevor, die Themen Flucht und Asyl werden dadurch, noch stärker als zuvor, zum Politikum. Und das auf Kosten der flüchtenden Menschen. Auch die deutsche Politik reagierte bestürzt, Bundeskanzler Scholz und Bundesinnenministerin Faeser sprachen sich für eine gemeinsame Lösung in Europa aus, bei der auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit geachtet werden solle. Die Entscheidung des EU-Rates über die Asylreform, bei der Menschen (darunter Familien und Kinder) ohne Bleibeperspektive in haftähnlichen Bedingungen monatelang eingesperrt werden, liegt nur wenige Wochen zurück. Asyl und die damit verbundene Rettung von fliehenden Menschen ist keine politische Frage. Es ist ein Menschenrecht.

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Natalia ist in den Bereichen (Mode-)Journalismus und Medienkommunikation ausgebildet und hat einen Bachelor in Management und Kommunikation. Derzeit studiert sie Digitalen Journalismus im Master. Besonders gerne schreibt sie über (und mit!) Menschen, erzählt deren Lebensgeschichten und kommentiert gesellschaftliche Themen. Sie leitet die Redaktion und das Schreibtandem von kohero. „Ich arbeite bei kohero, weil ich es wichtig finde, dass die Geschichten von Geflüchteten erzählt werden – für mehr Toleranz und ein Miteinander auf Augenhöhe.“     (Bild: Tim Hoppe, HMS)

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Geflüchtete sind auch Menschen

Er antwortete mit Nein. Er möchte keinen Kontakt mit Geflüchteten haben. Er habe im Hamburger Hauptbahnhof gesehen, wer Geflüchtete und Ausländern sind und was sie machen. Was kann ich da antworten? Er spricht das aus, was ein Teil der Deutschen denkt. Sie haben etwas aus den Medien erfahren und sie glauben, dass wir böse sind. Sie haben Angst vor uns- aber wie können wir mit Angst vor anderen leben? Natürlich sind wir Flüchtlinge, aber wir sind nicht alle gleich, wir sind unterschiedlich. Jeder von uns hat einen anderen Charakter, jeder hat eine eigene Meinung, eine andere Persönlichkeit. Nur durch den Kontakt mit uns kannst du uns kennenlernen. Nehmen wir an, es gibt eine Familie, die heißt F. und alle reden schlecht über diese Familie. Wenn du Familie F. nicht persönlich kennst, dann findest du vermutlich auch, dass diese Familie schlecht ist. Aber wenn du jemanden aus Familie F. kennenlernst , findest du vielleicht heraus, dass diese Familie gut ist. Das ist mit Geflüchteten genauso. Wer keinen Kontakt zu Geflüchteten hat, findet Flüchtlinge oft schlecht. Weil er nur darauf vertraut, was er in den Medien gehört hat. Wer aber Kontakt mit einem Geflüchteten hat, findet oft schnell heraus, dass sie auch gute Menschen sind. Die zweite Deutsche, mit der ich geredet habe, ist die Assistentin des Agenturchefs. Sie hat gesagt, dass die Geflüchteten andere Menschen sind. Sie haben eine andere Sprache, eine andere Religion. Sie wohnt in St.Georg und der Stadtteil habe sich in den letzten fünf Jahren sehr verändert. Nun höre sie dort jeden Tag den Muezzingesang aus der Moschee. Warum sieht sie uns als andere Menschen? Warum glaubt sie das? Wir sehen und verstehen immer, was wir möchten. Wenn du uns als Ausländer siehst, sind wir natürlich anders. Wenn du uns als jemanden mit einer anderen Religion siehst, sind

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Syrien und die Syrer*innen sind wieder in den Nachrichten

Wir haben diese Kolumne gestartet, um aktuelle Themen zu kommentieren. Es gibt auch diese Woche mehr als genug innenpolitische Themen, über die ich schreiben könnte. Aber ich möchte mich wieder auf Syrien konzentrieren. Denn Syrer*innen sind in der letzten Zeit für Medien und die Öffentlichkeit wieder aktuell geworden.  Nach dem schrecklichen Erdbeben im Februar folgten Schlagzeilen über den Diktator Bashar al-Assad und wie er versuchte, das Erdbeben für sich und seine Rehabilitation zu nutzen. Letzte Woche kommentierte ich die Situation im Sudan und die aussichtslose Lage von Syrer*innen, die schon wieder zur Flucht gezwungen werden. Und auch in dem Wahlkampf in der Türkei spielen syrische Geflüchtete eine wichtige Rolle.  Jetzt, kurz vor der Stichwahl, wird der Ton der Kandidaten schärfer und auch nationalistischer. Der Kandidat der Opposition, Kemal Kilicdaroglu, hat zu einem Deal mit Assad aufgerufen, um innerhalb eines halben Jahres alle syrischen Geflüchteten zurück nach Syrien abzuschieben. Erdogan hat eigentlich ähnliche Pläne für die Syrer*innen in der Türkei, aber er spricht noch über “freiwillige Rückkehr”. Seit ein paar Monaten gibt es durch russische Vermittlung auch Kontakt mit dem syrischen Regime und es wird ein Treffen zwischen Erdogan und Assad erwartet.  Arabische Staaten haben Beziehungen zu Syrien wieder aufgebaut Aber die größte Entwicklung in den letzten Wochen war, dass die arabischen Staaten ihre Beziehungen zum syrischen Regime wieder aufgenommen haben. Obwohl Bashar al-Assad und seine Armee hunderttausende Tote, Millionen Vertriebene und Städte in Schutt und Asche hinterlassen hat, scheinen die arabischen Länder alles vergeben und vergessen zu haben. Zum ersten Mal seit 2011 durfte Assad an einem Gipfeltreffen der Arabischen Liga teilnehmen. Der Hauptgrund dafür ist, dass Saudi-Arabien nach der Annäherung mit dem Iran Ruhe und Stabilität in der Region wiederherstellen möchte. Priorität sind jetzt die wirtschaftliche Entwicklung statt politische Konflikte. Es ist nicht ganz klar, welche Bedingungen die Staaten der

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Fluchtgeschichte: welche Rolle spielt sie bei der Bürgermeisterwahl?

Eines Morgens diese Woche öffne ich meine Twitter App und gucke, was es in den Nachrichten gibt, oder was  Elon Musk schreibt. Mit halb offenen Augen lese ich, was der Focus tweetet: “Mit 55,41 Prozent der Stimmen gewählt – Geflüchteter Syrer wird Bürgermeister in schwäbischem Dorf„.  Und plötzlich bin ich sehr wach. Ich will sofort wissen: Wer ist dieser neue Bürgermeister? Wann ist er geflüchtet? Welche Partei vertritt er? Eine Fluchtgeschichte wie viele andere Hier die Zusammenfassung: Ryyan Alshebl, 29 Jahre alt, kam 2015 als Geflüchteter nach Deutschland. Er kommt ursprünglich aus der südsyrischen Stadt Suwaida und lebt heute in Calw, Baden-Württemberg, wo er auch seine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten absolviert hat. Er ist in einer drusischen Gemeinde aufgewachsen und sagt heute, er praktiziere keine Religion. Am 2. April wurde er als parteiunabhängiger Kandidat mit 55% der Wähler*innenstimmen in dem 2500-Einwohner*innen-Dorf Ostelsheim gewählt. Privat, so schreiben es mehrere Medien, ist er Mitglied der Grünen. Seine Fluchtgeschichte klingt, wenn sie so allgemein beschrieben wird, wie die vieler anderen Syrer*innen, meiner inklusive. Als er zum Kriegsdienst gehen sollte, flüchtete er über Libanon in die Türkei. Dann per Boot auf die griechische Insel Lesbos und dann über die sogenannte Balkanroute weiter nach Deutschland. Irgendwie ist es für mich eine positive Nachricht, dass jemand mit einer ähnlichen Geschichte wie meiner nun gewählter Bürgermeister ist. Ich weiß, dass das auch oberflächlich ist. Ich kenne Alshebls genaue Geschichte nicht, ich weiß nicht, wie er als Person ist. Ich weiß auch nicht, welche politischen Einstellungen er hat, ich weiß nicht viel über seinen Wahlkampf.  Was braucht es für einen Erfolg in der Politik? Trotzdem freut es mich, dass diese Geschichte so in Deutschland passieren konnte. Ich bin nicht total überrascht, weil ich doch weiß, dass viele Millionen Menschen in den letzten Jahren hier Sicherheit gefunden haben. Viele haben

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Ein Flüchtlingsgipfel bringt Abschiebungen statt Lösungen

Das Flüchtlingsthema hat in Deutschland einen Gipfel erreicht. Am Mittwoch wurden die Ergebnisse eines Treffens zwischen Kommunen, Ländern und Bund, genannt Flüchtlingsgipfel, bekannt. Es ging auch in den Tagen und Wochen davor vor allem um die starke Belastung der Kommunen durch Geflüchtete. In vielen Kommunen können Sprachkurse nicht stattfinden und die Kitas und Schulen sagen, sie sind an ihrer Belastungsgrenze. Und es fehlt überall an Wohnraum und Unterbringungsplätzen. Natürlich stellt sich die Frage, warum die Kommunen nicht auf eine mögliche Notsituation vorbereitet sind? Haben sie nicht darüber nachgedacht, oder fehlt ihnen die Kreativität? Oder sind wir jetzt in dieser Notsituation angekommen, ohne dass es die breite Öffentlichkeit bemerkt hat? Auch wenn wir als Gesellschaft viel seit 2015 gelernt haben, wird “das Flüchtlingsthema” sehr oft mit Belastungen, Problemen und Krisen verbunden. Ich frage mich, warum das so ist. Liegt es daran, dass die Opposition ein Thema gegen die Regierung braucht und dieses Thema am besten funktioniert? Oder wollen die Kommunen Druck machen, weil sie dringend mehr finanzielle Unterstützung wollen? Oder liegt es daran, dass die Medien und Journalisten sich nicht mehr für den Kontakt zu Geflüchteten interessieren? Warum sprechen wir so viel über Belastungen, jetzt, wo 80% der neuen Geflüchteten aus der Ukraine kommen? Die Mehrheit der deutschen Gesellschaft und Politiker*innen haben sich zu Recht für die Aufnahme und Unterstützung von Ukrainer*innen entschieden. Das ist also eine Last, die wir als Gesellschaft tragen wollen. Diskussion über dir Finanzierung Die Diskussion fokussierte sich in den letzten Wochen aber vor allem auf die Fragen der Finanzierung. Wer zahlt für Unterbringung, Sprachkurse, Schulen und Gesundheitsversorgung? Die Unterbringung und Integration von Geflüchteten ist Aufgabe der Länder und Kommunen, so steht es im Grundgesetz. Der Bund hat in den letzten Jahren Milliarden investiert, um sich zu beteiligen. Seit 2015/16, also seit der sogenannten Flüchtlingskrise, wurden 15

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Natalia ist in den Bereichen (Mode-)Journalismus und Medienkommunikation ausgebildet und hat einen Bachelor in Management und Kommunikation. Derzeit studiert sie Digitalen Journalismus im Master. Besonders gerne schreibt sie über (und mit!) Menschen, erzählt deren Lebensgeschichten und kommentiert gesellschaftliche Themen. Sie leitet die Redaktion und das Schreibtandem von kohero. „Ich arbeite bei kohero, weil ich es wichtig finde, dass die Geschichten von Geflüchteten erzählt werden – für mehr Toleranz und ein Miteinander auf Augenhöhe.“     (Bild: Tim Hoppe, HMS)

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