Suche

Ramadan, Reflexion und Identität

Sarah ist auf dem Weg zu ihrer Familie in Berlin, um gemeinsam das Ende des Fastenmonats zu feiern. Was bedeutet das Fest für sie als Mitglied der pakistanischen Diaspora? Ein Kommentar über Verbundenheit, Einsamkeit und muslimische Identitäten in Deutschland.

Fotograf*in: Rauf alvi on unsplash

Während ich diesen Text schreibe, sitze ich im Zug nach Berlin. Ich fahre nach Hause, zu meiner Familie in Berlin, um gemeinsam mit ihnen das Ende des Fastenmonats Ramadan zu feiern. Normalerweise kommentieren Hussam, Natalia und ich in dieser Kolumne das aktuelle Geschehen aus unserer Perspektive zu Themen um Flucht und Migration. Und auch diese Woche hätten wir über europäische Abschottungspolitik schreiben können oder über Todeszahlen im Mittelmeer. Doch vielleicht halten wir auch kurz in dieser Kolumne inne, denn schließlich ist heute Feiertag.

Zur Ramadan-Zeit fühle ich mich besonders mit meiner Familie und meiner Religion verbunden. Doch seitdem ich ausgezogen bin, empfinde ich auch eine gewisse Distanz und Isolation. Denn ich habe hier kaum Anschluss an muslimische Communities, kenne die Moscheen nicht und erwische mich häufig dabei, vor diesen Kontakten zurückzuscheuen. Vielleicht weil ich nicht 30 Tage am Stück faste, vielleicht weil ich in einem sehr weißen und christlich geprägten Umfeld aufgewachsen bin und vielleicht weil ich mich oftmals unsicher oder nicht so gefestigt in meinem Glauben fühle.

Ramadan ist für viele Muslim*innen eine sehr besondere Zeit, in der sie sich ihrem Glauben und sich selbst widmen. Es ist für viele Muslim*innen aber auch eine Zeit, in der sie sich besonders einsam, schuldig oder verwirrt fühlen.

Ich habe Ramadan noch nie in Pakistan, dem Herkunftsland meiner Familie, verbracht. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn alle Menschen um einen herum fasten. Wenn Arbeitszeiten an die Fastenden angepasst werden und gemeinschaftlich bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang gegessen wird. Seitdem ich denken kann, ist Ramadan und Zuckerfest etwas, was wir irgendwie noch nebenbei unterkriegen mussten. Mindestens eine Person musste immer arbeiten, konnte die Mathe-Prüfung nicht verpassen oder hatte sonstige Verpflichtungen.

Es ist Zeit, dass muslimische Identitäten in Deutschland in ihrer Komplexität wahrgenommen werden

Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich heute ein sensibles Umfeld habe. Dass ich mich nicht großartig erklären muss und solche Fragen wie „Nicht mal Wasser?“ schon lange nicht mehr gehört habe. Und dass wir bei kohero ganz selbstverständlich gemeinsam Iftar machen und an Eid nicht arbeiten werden. Ich weiß, dass dies nicht der Normalfall ist. Und dass, obwohl immer mehr muslimisch sozialisierte Menschen in Deutschland leben.

Wie kann es sein, dass in NRW die Abiturprüfungen spontan auf Eid verlegt werden, ohne jegliche Rücksichtnahme auf muslimische Schüler*innen? Wie ist es möglich, dass viele Arbeitnehmer*innen sich nicht frei nehmen können, um bei ihren Familien zu sein? Und dass Medien bei ihrer Berichterstattung über den Fastenmonat Muslim*innen immer noch ausschließlich mit Bart oder Kopftuch darstellen?

Es ist Zeit, dass muslimische Identitäten in Deutschland in ihrer Komplexität wahrgenommen werden. Und dass die Lebensrealitäten, Forderungen und Bedürfnisse dieser Menschen in ihrer Heterogenität ernst genommen werden. Dafür braucht es auch öffentliche Auseinandersetzungen mit Widersprüchen, Unsicherheiten und Gegensätzen innerhalb der muslimischen Communities. Ich hatte lange große Hemmungen, über Religion zu sprechen. Aus Angst, etwas falsches zu sagen oder verurteilt zu werden. Aber inzwischen merke ich, wie wichtig es ist, offener damit umzugehen und unterschiedliche Ansichten auszuhalten.

Dieses Jahr werde ich gemeinsam mit meiner Familie an Eid zum Gebet gehen. Wir werden pakistanisches Essen essen, Freund*innen besuchen und uns vielleicht Henna malen. Wir werden am Samstag aber auch zu einem Fundraiser-Event für Betroffene von den Fluten in Pakistan gehen, bei dem Aktivist*innen und Künstler*innen sich mit den Auswirkungen der Klimakrise befassen. Denn auch wenn wir in der Diaspora Einsamkeit und Zerstreuung erleben, leben wir doch in vielerlei Hinsicht deutlich privilegierter. Sich damit an einem Fest zu befassen, was für Gemeinschaft, Familie und Solidarität steht, könnte meiner Meinung nach nicht passender sein.

Bildquellen

Schlagwörter:
,
Sarah Zaheer
Sarah leitet bei kohero die Podcast-Redaktion. Sie koordiniert unsere Schwerpunkt-Redaktion „zu.flucht“ und ist gemeinsam mit ihrer Schwester Maya beim „curry on!“ Podcast zu hören. Sie kommt aus Berlin, lebt aber schon seit einigen Jahren in Hamburg und studiert hier Journalistik und Kommunikationswissenschaft. Nebenbei arbeitet sie als freie Journalistin für Print und Hörfunk. „Ich finde es sehr wichtig, dass beim kohero Magazin Menschen zu Wort kommen, die in der Medienlandschaft sonst leider strukturell unterrepräsentiert sind. Ich möchte dazu beizutragen, diese Perspektiven sichtbar zu machen!“

Zum Abo: 

Mit deinem Abo können wir nicht nur neue Printausgaben produzieren, sondern auch unsere Podcasts und das Online-Magazin weiter kostenlos anbieten.

Wir machen Journalismus, der zugänglich für alle sein soll. Mit dem Rabattcode koherobedeutetZusammenhalt kannst du einzelne Ausgaben günstiger bestellen. 

Kultur der Liebe #6: Wertschätzung und Empathie

Dating und Liebe – das kann sehr schön, aber auch sehr anstrengend sein. Schön, weil man auf einen Menschen treffen kann, der eine*n inspiriert, mit der man Nähe und Intimität austauschen kann. Anstrengend, weil wir in einer Gesellschaft leben, die immer schnelllebiger wird, mit sexistischen und rassistischen Stereotypen und Normen. Welche Erfahrungen machen Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung in Deutschland beim Daten und in der Liebe?  Zwei Menschen treffen aufeinander und damit auch zwei (kulturelle) Identitäten mit unterschiedlichen Erwartungen, Sozialisierungen und Erfahrungen. Unterschiedliche Wünsche, Freiheiten und manchmal auch Sprachen. Dabei kann es zu Missverständnissen, Vorurteilen, neuen Einblicken und Gemeinsamkeiten kommen.    Si-Hao, meistens Didi genannt, ist 26 Jahre alt und kommt aus Hamburg. Seine beiden Eltern kommen aus China, sein Vater lebt seit seinen Zwanzigern in Hamburg, seine Mutter ist in Hamburg aufgewachsen. Sie haben hier gemeinsam ein Restaurant. Zu Hause wurde nicht viel über Liebe und Romantik gesprochen. Seinen Zugang zu Sexualität hatte Didi in der Pubertät durch Pornografie. Die ersten sexuellen Erfahrungen waren nicht sehr romantisch. Durch seine erste feste Beziehung hat er gelernt, was Wertschätzung, Ehrlichkeit und Kommunikation ausmacht.    Der Wunsch nach Empathie, Verständnis und Aufklärung   Wenn ich an meine Kindheit und Jugend denke, war das Thema Aufklärung nur im Rahmen der Schule im Sexualkundeunterricht präsent. Zu Hause mit meinen Eltern gab es solche Gespräche nicht. Mit meinem Vater hatte ich nie ein ‘Vater-Sohn’-Gespräch. Das lag, denke ich, zwar auch an unserer Sprachbarriere, aber er ist generell keine sehr kommunikative Person und hat sich auch sonst eher aus der Erziehung rausgehalten. Mein Vater ist in einem sehr konservativen Haushalt in Hongkong groß geworden und auch meine Mutter hatte einen strengen Vater. Bei beiden war das Aufwachsen eher strikt, es war beispielsweise klar für meine Mutter, dass sie in der Gastro arbeiten wird, weil das ihre

Weiterlesen …

Kultur der Liebe #5: Offene Grenzen, freie Liebe

Dating und Liebe – das kann sehr schön, aber auch sehr anstrengend sein. Schön, weil man auf eine Person treffen kann, die einen inspiriert, mit der man Nähe und Intimität austauschen kann. Anstrengend, weil wir in einer Gesellschaft leben, die immer schnelllebiger wird, mit sexistischen und rassistischen Stereotypen und Normen. Welche Erfahrungen machen Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung in Deutschland beim Daten und in der Liebe?  Zwei Menschen treffen aufeinander und damit auch zwei (kulturelle) Identitäten mit unterschiedlichen Erwartungen, Sozialisierungen und Erfahrungen. Unterschiedliche Wünsche, Freiheiten und manchmal auch Sprachen. Dabei kann es zu Missverständnissen, Vorurteilen, neuen Einblicken und Gemeinsamkeiten kommen. Salah ist 25 Jahre alt. Er ist in Hamburg geboren und aufgewachsen. Seine Eltern kommen aus dem Libanon. In Hamburg ist Salah zur Schule gegangen und hat sein Abitur gemacht. Seine Kindheit beschreibt er als sehr arabisch und muslimisch geprägt. Aus seiner Perspektive hat die Religion vieles eingeschränkt in Bezug auf erste sexuelle und romantische Erfahrungen, da diese durch die Religion meistens schon vorgegeben sind. Mittlerweile ist er sehr offen und selbstbewusst im Dating-Leben aktiv. Dabei hat er Erfahrungen in Deutschland, im Libanon und in anderen Ländern gemacht. Von meinen Eltern habe ich nicht viel über Liebe und Sex gelernt, das war eher ein Tabuthema Ich bin in einem schwierigen Verhältnis in Bezug auf die Themen Liebe, Romantik und Wertschätzung aufgewachsen. Ein Grund dafür ist die Religion, würde ich sagen. Ich bin in einem religiösen Haushalt aufgewachsen und war als Kind auch selbst noch religiös, das war irgendwie ein Muss. Ich hatte gar keine andere Wahl. Von meinen Eltern habe ich nicht viel über Liebe und Sex gelernt, das war eher ein Tabuthema. Und dadurch bin ich in einem Zwielicht aufgewachsen. Einerseits gab es da das Interesse an Befriedigung und den Wunsch, das zu tun, worauf ich Lust habe, und

Weiterlesen …

Was Ramadan für uns bedeutet

Der Ramadan kommt wie jedes Jahr. Und wie jedes Jahr freuen sich viele Musliminnen und Muslime auf ihn. Aber dieses Jahr wird Ramadan anders sein als in den letzten zwei Jahren. Corona hat vieles verändert. In der Coronazeit war Ramadan, besonders für große Familien, ganz anders. Sie konnten nicht zusammen feiern, das Fastenbrechen, höchstens vielleicht über Skype.   Ramadan in Syrien Als ich in Syrien lebte, haben wir Ramadan auch anders erlebt. Wir arbeiteten nur sieben Stunden am Tag, hatten fast jeden Tag viele Gäste, kochten sehr viel. Wir aßen sehr viel und gingen mehrmals täglich in die Moschee. Morgens und abends beteten wir gemeinsam. Ramadan bedeutet Zusammensein und Gemeinsamkeit. Zusammen fasten, zusammen Fastenbrechen, zusammen beten. Den ganzen Abend zusammen sein oder kurz vor Fastenbeginn essen, trinken und dann beten. “Suhoor” wird diese letzte Mahlzeit vor Sonnenaufgang genannt. In Deutschland haben ich mit vielen Freund*innen das Fasten gebrochen. Wir haben viele arabische Serien angeschaut, weil Ramadan der “Serienmonat” in den arabischsprachigen Ländern ist. Die Unternehmen der Filmproduktion arbeiten das ganze Jahr, um im Ramadan ihre Serien zu zeigen. Das ändert sich allmählich, weil viele Unternehmen kostenpflichtige Streamingangebote für arabischsprachiges Publikum anbieten. Besonders Netflix versucht, mehr neue arabische Serien zu produzieren.  Für viele arabischsprachige Menschen bleibt das Fernsehen ein wichtiges Medium, weshalb es gerade im Ramadan besonders viel Werbung und auch Serien zu sehen gibt. Vielleicht ist es mit der Advents- und Weihnachtszeit in Deutschland vergleichbar: So wie es die “Weihnachts-Spots” von Supermarktketten oder anderen Firmen gibt, so gibt es auch Ramadan-Spots.    Ramadan im Exil Viele Musliminnen und Muslime, die im Exil leben, leben alleine. Ihre Familien, besten Freund*innen oder Bekannte, mit denen sie das Fasten brechen könnten, sind auf der Welt verteilt. Sie müssen alleine Fasten brechen. Das macht für sie Ramadan sehr schwierig und die Erinnerung an die

Weiterlesen …

Brauchen wir alle eine psychiatrische Behandlung?

Das überraschte mich und ich fragte mich, warum er das glaubte. Weil er eventuell in einer Behörde arbeitete? Oder stimmte das vielleicht sogar? Unser Leben ist nicht „normal“ Wir sind nicht „normal“ und unsere Leben sind auch nicht „normal“. Auch unsere Gedanken nicht, aber das muss nicht bedeuten, dass wir psychiatrische Patienten sind. Ein Teil von uns hat z.B. in der Vergangenheit in seinem Land normal gelebt, er hatte einen tollen Job und eine Familie um sich, und jetzt ist alles anders – alles ist „verrückt“. Sein Haus ist kaputt, seine Familienmitglieder leben an verschiedenen Orten. Sie können sich nicht treffen. Er muss vom Jobcenter Geld nehmen und sich mit einem komischen bürokratischen System befassen. Außerdem muss er eine neue Sprache lernen und seine Vergangenheit vergessen, um „richtig“ leben zu können. Aber er kann einfach nur in der Vergangenheit leben, er hatte sich vieles über seine Zukunft ausgedacht, aber das lässt sich nicht realisieren und so fragt er sich: „Warum muss ich das alles machen?“ Innere Diskussion und Zerrissenheit Ein zweiter Teil von uns hat sich z.B. in einer anderen Kultur befunden und er muss in einer neuen Gesellschaft leben. Er muss sich integrieren, aber diese Kultur ist nicht seine alte Kultur. In dieser neuen Kultur trotzt er seiner alten Gesellschaft, er kann jetzt machen, was er in seiner alten Kultur nicht durfte. Und er macht das alles, aber innerlich gibt es das große Diskutieren: Ob er es richtig oder falsch macht, ob er sich in dem Neuen finden kann, ob er richtig glaubt oder nicht, oder ob es Gott gibt, oder nicht. Ob er das wirklich machen darf, was er macht, oder nicht – so läuft die Diskussion in ihm ohne Ende. Ein dritter Teil von uns hat sich z.B. auch in einer anderen Kultur befunden, aber er hat

Weiterlesen …
Kategorie & Format
Sarah Zaheer
Sarah leitet bei kohero die Podcast-Redaktion. Sie koordiniert unsere Schwerpunkt-Redaktion „zu.flucht“ und ist gemeinsam mit ihrer Schwester Maya beim „curry on!“ Podcast zu hören. Sie kommt aus Berlin, lebt aber schon seit einigen Jahren in Hamburg und studiert hier Journalistik und Kommunikationswissenschaft. Nebenbei arbeitet sie als freie Journalistin für Print und Hörfunk. „Ich finde es sehr wichtig, dass beim kohero Magazin Menschen zu Wort kommen, die in der Medienlandschaft sonst leider strukturell unterrepräsentiert sind. Ich möchte dazu beizutragen, diese Perspektiven sichtbar zu machen!“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kohero Magazin