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Mama, Papa, Bruder und ich

Seit zehn Jahren lebt Waldorflehrerin Yuliia Marushko in Deutschland. Seit letzem Jahr leben auch ihre Eltern, Vater Semen und Mutter Valentyna, in Hamburg. Ausgerechnet an Semens 70. Geburtstag wird Sohn Serhiy, der sich zu Beginn des Krieges als Freiwilliger zur Armee gemeldet hat, in die Ostukraine geschickt. Wie reagiert eine Familie auf eine solche Nachricht?

Fotograf*in: Berry Behrendt, gemalt von Marushka

„Wenn Dir einmal jemand gesagt hätte, dass an deinem 70. Geburtstag dein Sohn in die Ostukraine gehen würden, um dort einen Krieg mit Russland zu führen, was hättest Du gesagt?“, frage ich meinen Vater Semen, der seit August 2022 in Hamburg lebt. Wir sitzen im Herzen der Stadt, im Stadtteil St. Georg, und mein Vater schüttelt den Kopf: „Als wir 1971 zur Armee gingen, haben alle geweint, und damals war es noch friedlich. Die Leute waren stolz darauf, zur Armee zu gehen, vor allem die Matrosen. Heute macht der Krieg allen Angst.“

Papa Semen: „Die Armee ist eine gute Schmiede, aber es ist besser, ein Fernstudium zu absolvieren.“

Mein Vater Semen wurde 1953 geboren, dem Jahr, in dem Stalin starb. Er wuchs während der langen Zeit der Chruschtschow-Herrschaft auf. Semen beschreibt seine Kindheit mit drei Worten: Sport, Arbeit und Schule. Er bestreitet meine Bemerkungen über eine hungrige und barfüßige Kindheit. Er besteht darauf, dass seine Kindheit lustig war, und obwohl sie Schuhe hatten, zum Beispiel polnische Turnschuhe, die 2,50 Rubel oder 3,50 chinesische Rubel kosteten, trugen sie diese nicht, höchstens an den Schnürsenkeln über den Schultern. Fußball spielten sie lieber barfuß!

Mein Bruder ist 1 Jahr und 8 Monate älter als ich und ich hatte eine Menge Gründe, ihn nicht zu mögen. Als Kind wünschte ich, ich hätte eine Schwester. Oder dass ich ein Junge wäre, dann könnte ich wie mein Bruder die ganze Zeit mit den Jungs Krieg spielen. Ich wünschte mir, dass mein Bruder mich in der Schule beschützt hätte. Ich fühlte mich so traurig als er mein Lieblingskuscheltier im Klo versenkte… und ein wertvolles Geburtstagsgeschenk, das Buch mit den Volksmärchen, mit einem Messer zerschnitt.

Wäre er aus der Armee ohne Postarmee-Träume gekommen, die er mit Alkohol vergessen wollte, hätte meine Familie sorglose Jahren gehabt.

Wenn mir jemand gesagt hätte, dass mein Bruder sich jemals als Freiwilliger am Anfang des Krieges zur Armee melden würde, ich hätte es nicht geglaubt. Er ist Vater, hat eine eigene Familie gegründet, seine Frau und meine Nichte wohnen seit Sommer 2022 in Polen.

„wie ein kleines Kind, ungeschützt und sprachlos“

Serhiy ist schon länger trocken. Ein Jahr war er als Freiwilliger an der belarussischen Grenze. Und ausgerechnet zu Papas 70. Geburtstag wurde er in die Ost-Ukraine geschickt. So ein Geschenk. Mein erster Impuls ist, diese Nachricht mit denen zu teilen, die ich meine Freunde nenne. Mit Mama und Papa muss ich stark bleiben. Ich fühle mich wieder wie ein kleines Kind, ungeschützt und sprachlos.

„Ich bete für jeden unserer Soldaten, ich werde auch für Serhiy beten…“ „Einige von uns haben dort Verwandte, einige haben dort Freunde und Bekannte“, schreiben mir meine Leute aus der Ukraine, die beten und schicken Grüße, meinem Vater und meinem Bruder und allen unseren Verteidigern.

Manche Freunde rufen an, das tut gut, damit geht’s mir besser.

Papa Semen, der letztes Jahr zu Hause in der Ukraine, in Lutsk war und seinen Geburtstag wegen der Fastenzeit vor Ostern nicht feiern konnte. Seine Frau, meine Mutter Valentyna, war vor einem Jahr schon in Hamburg. Papa hat damals ein paar Eier gebraten und mit seinen Kumpels Bier mit Wodka getrunken.

Wir sitzen zusammen mitten im Herzen der Stadt. Trinken Bier. Ohne Wodka. Ohne Mama. Wegen der Fastenzeit. Und zu dieser Zeit fährt der Zug mit meinem Bruder und anderen Jungs aus dem Westen in den Osten der Ukraine. Ich frage das Geburtstagskind, was es allen wünscht. Früher, sagt Semen, wünschten sich alle Gesundheit und jetzt wünschen sie sich nur das eine – Frieden!

Schreibtandem: Christiane Niemeyer

Informationen zum Beitragsbild: Bildserie „ANASTASIS“, gemalt 2017 in Hamburg, „Mein Papa Semen als Soldat“ (8751) Marushka, Anastasis, Soldat Gebiet Bojken, 2017, Öl auf Leinwand, 30 x 60 cm, Foto: Berry Behrendt

Bildquellen

  • Mein Papa Semen als Soldat (8751): Marushka
Schlagwörter:
Yuliia (Marushka) studierte Journalismus und Waldorfpädagogik (sowohl in der Ukraine als auch in Deutschland). Das Lebensziel, eine Waldorfschule in ihrer Heimatstadt zu gründen, führte Marushka 2012 nach Deutschland und sie konnte diesen erfolgreich 2020 erfüllen. In der Ukraine war sie zuvor als Radiomoderatorin tätig. Die Maidan Revolution führte sie zum Aktivismus, den sie durch Kunst ausführt. In Hamburg ist sie nun als freie Künstlerin, Autorin und Märchenerzählerin (Mäuschen Marushka) unterwegs.  „Die Frage: ‚Bist du geflüchtet?‘ hat mich persönlich mitgenommen. Deshalb arbeite ich bei kohero. Es ist an der Zeit, ukrainische Stimmen wahrzunehmen.“

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Identität

„Wir sind voller Geschichte, von der wir nichts wissen“

„Außer sich“ beginnt mit einem Zitat von James Baldwin aus seinem Buch „Eine Straße und kein Name“. Es geht so: „Die Zeit vergeht schnell. Sie bewegt sich nach vorn und zurück und trägt dich weit fort, und keiner weiß mehr über sie als das: sie trägt dich durch ein Element, das du nicht verstehst, in ein anderes, an das du dich nicht erinnern wirst. Aber etwas erinnert sich – wenn man es so will, kann man sagen, daß etwas sich rächt: die Falle des Jahrhunderts, der Gegenstand, der nun vor uns steht.“ Im Interview sprechen Sasha und ich über Identität, das Schreiben an sich, die Schlüsselthemen des Romans und auch über das Zitat, über das ich noch lange nachgedacht habe.   Warum hast du dieses Zitat gewählt und welche Rolle spielt es auch im Hinblick auf den Inhalt des Buches? Baldwin war und ist so eine Art literarisches Vorbild von mir. Ich habe exzessiv Baldwin gelesen, zu der Zeit, als ich „Außer sich“ geschrieben habe. Ich gehöre zu den Menschen, die viel lesen, wenn sie schreiben. Manche Leute haben eine Bibel dabei, ich hatte immer das Buch „Eine Straße und kein Name“ dabei. Manchmal ist es so, wie mit der Liebe: Es trifft dich und du kannst es dann rationalisieren und später erklären warum, aber eigentlich ist es egal. Es war ein Gefühl. Ich habe es gelesen und ich wusste: DAS IST ES! Ich glaube, wenn ich jetzt versuchen würde das in Worte zu fassen, warum ich dieses Zitat ausgewählt habe, ist es, weil mein ganzes Denken darum kreist, dass wir voller Geschichte sind, von der wir nichts wissen. Wir sind im Zusammenhang mit dieser Geschichte voller Schuld, die wir nicht einsehen wollen oder können. Darum kreist sich – eher als Wunde, nicht als Gedanke – alles, wozu ich arbeite.

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Neuanfang

Neuanfang

Du gehst die Straße entlang. Schritt für Schritt. Du versuchst schneller zu laufen, aber dein Bein will nicht mitmachen. Du siehst die Bäume an der Straße. Eine Sekunde schaust du ohne zu blinzeln, du hörst zu. Nach einiger Zeit erreichst du ein großes Gebäude, dessen Fenster so hell erleuchtet sind, dass die Straße gegenüber in der Nacht strahlt. Du drehst dich um und entdeckst dein eigenes Blut auf dem Weg, den du gekommen bist. Dein Blick folgt der Spur bis zu deiner Hose, die wegen deines Blutes kaum mehr als eine grüne Uniform erkennbar ist. Dann schaust du auf das Gebäude und siehst die Krankenwagen, die davor geparkt sind. Du holst deinen Geldbeutel aus deiner Hosentasche. Ein vergilbtes Foto: eine Frau mit einem Kind in den Armen. Du steckst den Geldbeutel wieder ein und gehst weiter geradeaus, bis die Straße wieder ganz dunkel wird. Du erinnerst dich an damals. Jetzt kannst du schneller laufen. Du erinnerst dich an die Grenzen, daran, dass du dasselbe Foto in deinem Unterhemd versteckt hattest. Jedes Mal nach den Bombenangriffen hast du deinen Herzschlag gespürt. Hast das Papier auf deiner Haut gefühlt, wie es die Muskeln deiner Brust bewegt haben. Dann konntest du wieder atmen und dein Herz beruhigen. Du gehst weiter und schaust nach vorne. In der Dunkelheit erkennst du einen etwas älteren Mann mit einer grünen Uniform. Du freust dich. Er sagt: „Schöner Wollmantel!“ „Danke.“ „Hält der warm?“ „Ja.“ „Das letzte Mal hab‘ ich so‘ nen Mantel vor dreiundzwanzig Jahren gesehen. Im Urlaub. In den Bergen.“ „Schade, dass die Produktion bei uns nicht mehr läuft.“ „Bei Euch? In den Bergen?“ „Ich meinte am Meer.“ „Ach so! Dafür haben wir goldene Fischschuppenmäntel. Siehste nicht?“ „Doch. Steht Ihnen.“ „Bin zwar alt, aber immer noch Fischer! Wie mein Vater. Weißt du?“ „Interessant.“ „Der Fisch hat dein

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Ist das hier ein Café oder eine Quizshow?

Zu Hause in Damaskus habe ich eine Ausbildung im Bereich erneuerbare Energien gemacht, danach habe ich ein kleines Geschäft mit Elektrowaren betrieben. Ich finde meine Kenntnisse als Verkäufer perfekt. Mein Geschäft wurde im Krieg zerstört. Ich hatte viele Ziele- aber die habe ich auch im Krieg verloren. Ich habe auch viele Hobbies. Ich liebe Fotografieren, schreibe Texte und Gedichte und mache Pantomime. Meine Familie war aber gegen die Schauspielerei, deswegen habe ich das nicht beruflich gemacht. Weil ich auf meine Eltern hören will. In meinen Träumen sehe ich mich in Deutschland, habe vielleicht ein eigenes Geschäft und arbeite im Bereich Umwelttechnik und erneuerbare Energien. Und zum Schluß eine witzige Geschichte über einen Mann in Deutschland, der in ein Café geht: Ich: Guten Tag, ich hätte gern einen Kaffee, bitte. Kellnerin: Kaffee, Cappuccino, Latte Macchiato oder Espresso? Ich: Hmmm…Kaffee, bitte. Kellnerin: Normal oder koffeinfrei? Ich: Normal, danke. Kellnerin: Große Tasse oder kleine? Ich: Große. Kellnerin: Mit oder ohne Milch? Ich: Mit Milch und Zucker, bitte. Kellnerin: Zucker oder Süßstoff? Ich: Neiiiiiin danke, ich möchte Zucker! Kellnerin: Möchten Sie gleich zahlen oder erst später? Ich: Lieber sofort. Kellnerin: Bar oder Karte? Ich: Ooooooooohhh nein! Sagen Sie, ist das hier ein Café oder eine Quizshow? Kellnerin: Wir haben hier eben nicht nur Kaffee. Sondern Cappuccino, Latte Macchiato, Espresso,… Ich: Okay, okay, stopp! Ich brauch nichts mehr! Tschüss!  

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Meine Erfahrungen mit der Freiwilligenarbeit

Zum Tag des Ehrenamtes am 5.12. möchte ich mit Ihnen über meine Karriere in Deutschland sprechen, insbesondere über meine Erfahrungen in der Freiwilligenarbeit im Bereich Bildung und Sozialarbeit. Was ich getan habe und welchen Einfluss die Arbeit auf meine Persönlichkeit und viele Menschen in der deutschen Gesellschaft hatte. Ankunft in Deutschland Als ich 2016 nach Deutschland kam: „Alles drehte sich darum, wie ich Erfolg haben und mich beweisen kann.“ In Syrien haben wir viel verloren, wir hatten nicht genug Rechte. Es gab also keine Zeit, die Vergangenheit zu bedauern, sie war einfach vorbei… Seit ich in Deutschland angefangen habe die Sprache zu lernen, habe ich parallel dazu Freiwilligenarbeit geleistet. Das habe ich bis zum Ende meines Studiums getan. Ich kann sagen, dass mein Enthusiasmus nicht geringer ist als früher… Erste Erfahrungen in der Freiwilligenarbeit Hier in Thüringen, genauer gesagt im Herzen der Landeshauptstadt Erfurt, habe ich meine ersten Schritte in der Freiwilligenarbeit gemacht, indem ich in vielen humanitären Organisationen im Dienste der Migranten und ihrer Unterstützung tätig war. Nach dieser Erfahrung wuchs meine Leidenschaft immer mehr, vor allem, als ich in die Gesichter vieler Menschen Züge von Freude und Glück malen konnte… Dann begann ich meine Aktivitäten mit Kindern in verschiedenen Organisationen zur Unterstützung von Flüchtlingskindern aller Altersgruppen, und das tue ich immer noch… Aktivitäten für Kinder Bildungs- und Motivationsaktivitäten für Kinder waren eine dieser Aktivitäten. Trotz der Härten und schwierigen Bedingungen aufgrund der COVID-19-Pandemie und der ständigen Abriegelung wechselte ich zum Online-Unterricht. All diese Aktivitäten haben mir trotz der Müdigkeit und der eigenen Anstrengung Spaß gemacht. Aber wenn ich mich an die Gefühle erinnere, die ich danach hatte, motiviert mich das, weiterzumachen. Und bis heute kehre ich in meine Heimat zurück und bin stolz auf all diese Momente, die ich als großen Erfolg für mich betrachte. Unmittelbar nachdem ich

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Yuliia (Marushka) studierte Journalismus und Waldorfpädagogik (sowohl in der Ukraine als auch in Deutschland). Das Lebensziel, eine Waldorfschule in ihrer Heimatstadt zu gründen, führte Marushka 2012 nach Deutschland und sie konnte diesen erfolgreich 2020 erfüllen. In der Ukraine war sie zuvor als Radiomoderatorin tätig. Die Maidan Revolution führte sie zum Aktivismus, den sie durch Kunst ausführt. In Hamburg ist sie nun als freie Künstlerin, Autorin und Märchenerzählerin (Mäuschen Marushka) unterwegs.  „Die Frage: ‚Bist du geflüchtet?‘ hat mich persönlich mitgenommen. Deshalb arbeite ich bei kohero. Es ist an der Zeit, ukrainische Stimmen wahrzunehmen.“

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