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next station – Gefangen in einer Erinnerung

Mohammad Alsheikh und Ahmed Bazarto erzählen im Film next station von der Flucht aus Syrien und Ankommen in Deutschland. Im Interview berichten die Produzenten des Films von falsch verstandener Integration, dem Umgang mit Einsamkeit und davon, wie es sich anfühlt, in einer Erinnerung gefangen zu sein.

dunkler verlassener U-Bahnhof
Fotograf*in: Alex Rainer auf Unsplash

Emily: Erzählt zuerst etwas zur Entstehungsgeschichte von next station. Ihr hattet zuvor keine Erfahrung im Filmdreh. Wie seid ihr dann dazu gekommen, ausgerechnet einen Film zu machen?

Mohammad: Ich wollte den Regie Master an der Hamburg Media School studieren, und für die Bewerbung muss man einen Film drehen. Also habe ich gemeinsam mit Ahmad überlegt, wie können wir mit dem Film auch eine Nachricht überbringen? Da ist uns eingefallen, dass in den letzten zwei Jahren viele junge Menschen gestorben sind, und dass uns das sehr bedrückt.

Emily: Was meinst du damit, dass junge Menschen gestorben sind?

Mohammad: Einige junge Geflüchtete sterben vom Stress, weil sie nicht die richtige Hilfe erhalten, weil sie sich nicht richtig integrieren können. Sie studieren vielleicht an der Uni, aber sie haben niemanden zum Reden, kaum Freunde, nicht wie es damals in der Heimat war.

Ahmed: Am Anfang waren wir überrascht zu hören, dass 22-jährige an einem Herzinfarkt sterben, aber dann passierte das immer häufiger.…

Mohammad: Bei 20 Personen in unserem Alter, das ist sehr ungewöhnlich. Aber wenn man allein zwischen vier Wänden wohnt und nur zur Arbeit oder Uni geht, dann wird man natürlich einsam, fängt an, ungesünder zu leben, mehr zu rauchen zum Beispiel. Und dieser Lebensstil führt am Ende zu einem Herzinfarkt. Aber der Auslöser dafür ist Einsamkeit.

Ahmed: Was uns außerdem wundert: Integration wird oft nur akademisch betrachtet. Man soll die Sprache lernen, Arbeiten oder Studieren und fertig. Aber man braucht auch in anderen Aspekten Unterstützung, die man in Medien häufig nicht sieht.

Mohammad: Wir hatten das Gefühl, die menschliche Seite von Integration wird oft einfach ignoriert.

Emily: Da greift ihr eine Frage vor, die ich euch ohnehin stellen wollte. Denn ich habe oft das Gefühl, dass es ein grundlegendes Missverständnis gibt über Integration. Viele Deutsche denken, es reicht, wenn man irgendwann B2-Kurs abgeschlossen hat und arbeitet – und dann ist die Integration fertig.

Mohammad: Geflüchtete verlassen zwar ihre Heimatländer, aber die Heimat verlässt uns nie. Wir werden daran erinnert, wenn wir nur Social Media öffnen und sehen, da ist eine Bombe gelandet, dort wurde eine Person entführt. Wir sind dankbar, dass wir hier in Sicherheit leben können, aber damit müssen wir trotzdem kämpfen.

Ahmed: Gegenseitige Unterstützung sehen wir selten, und wenn ich ehrlich sein soll, auch von deutscher Seite nicht. Als Syrer*in hat man zum Beispiel große Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden. Oft sind wir für die deutsche Gesellschaft noch ein großes Fragezeichen. Manche sind überfordert im privaten Umgang mit uns. Sie haben Angst, etwas Falsches zu sagen oder wissen nicht, wie sie offener sein können. Aber wenn man beispielsweise weiß, der Nachbar unter mir ist ein Geflüchteter, dann könnte man einfach anklopfen und fragen, ob man bei etwas helfen kann.

Mohammad: Vor ungefähr drei Monaten habe ich eine Wohnung gesucht. Ich habe monatelang von niemandem eine Antwort erhalten. Bis ich einer Vermieterin geschrieben habe, dass mir niemand antwortet, weil ich nicht aus Deutschland komme. Nur von ihr erhielt ich eine Antwort, und sie hat mir dann eine Wohnung gegeben. Das verstehe ich nicht.

Emily: Mir ist ein Zitat aus dem Film in Erinnerung geblieben: „Gefangen in einer schönen Erinnerung.“ Was meint ihr mit diesem Zitat?

Mohammad: Wenn man vor 2011 in Damaskus gelebt hat, war das Leben schön, unvergleichlich mit der Zeit danach…

Ahmed: …Ja, viele Menschen haben viele schöne Erinnerungen an Damaskus. Und Syrer*innen gingen selten ins Ausland. Aber jetzt sieht unsere Heimat komplett anders aus. Wenn ich heute Freunde in Syrien nach anderen Freunden oder Bekannten frage, können sie nur sagen: Ich weiß es nicht.

Denn alle haben diesen Ort verlassen oder sind gestorben. Auch wenn man es schafft, wieder nach Syrien zu gehen, dann geht man nicht zurück zu der Heimat, die man verließ. Die Menschen sind anders, die Gebäude sind anders, die Preise sind ums 1.500-fache gestiegen. Wenn mir heute jemand den Preis eines Apfels in Syrien sagt, ist es für mich komplett unvorstellbar. Deswegen sind wir geflüchteten Syrer*innen in einer schönen Erinnerung gefangen. Wir können den Ort unserer Erinnerung nicht erneut besuchen und dasselbe schöne Gefühl haben. Das war ein sehr wichtiges Thema im Film: Soll ich jetzt zurückgehen oder soll ich hierbleiben?


Emily: In dem Film sprecht ihr auch den Blick in die Zukunft an. Wann ist für euch das erste Mal diese Frage aufgetaucht: „Was ist eigentlich in 30 Jahren? Werde ich denn immer noch in Deutschland sein?“

Mohammad: Vor vier Jahren habe ich hier einen Sudaner getroffen, der schon über 50 Jahre alt ist und das gleiche Problem wie Omar aus dem Film hat. Seit dieser Begegnung frage ich mich oft: Kann ich hier weiterleben, wenn die Situation so bleibt? Irgendwann bin ich vielleicht verheiratet und habe ein stabiles Leben, aber kann ich trotzdem hierbleiben?

Ahmed: Diese Frage stellt sich jede*r Geflüchtete. Einige sind schon offiziell Deutsche, wurden eingebürgert, führen ein Unternehmen oder studieren, aber trotzdem können sie diese Frage nicht beantworten. Denn wenn ich hier in Deutschland bin, dann bin ich der Syrer. Und in Syrien bin ich der Deutsche. Man gehört nirgendswo richtig hin. Das führt dazu, dass viele Menschen mit Migrationsgeschichte das ganze Jahr lang arbeiten, nur damit sie in der Weihnachtszeit einen Monat in der Heimat verbringen können. Sie sparen das ganze Jahr lang, nur um diese schöne Erinnerung wieder zu erleben.

Mohammad: Die Zeit hier in Deutschland vergeht so unglaublich schnell. Das Gefühl hatte ich nie, als ich in Syrien war. Man hat jeden Tag die gleiche Routine, und manchmal frage ich mich, wie Deutsche das aushalten.

Ahmed: In Syrien war das Leben viel einfacher. Wenn ich abends rausgegangen bin, fand ich direkt vor der Tür ein Café oder ein Restaurant, die Läden sind oft 24 Stunden offen. Man sieht überall Kinder, die Fußball spielen oder Jugendliche, die einfach beieinandersitzen, Kaffee trinken und reden. Wenn mir in Syrien langweilig war, bin ich nur rausgegangen, und habe jemanden gefunden, dem es auch so ging. Dort arbeitet man, um zu leben, hier in Deutschland ist es andersrum.

Emily: Ihr sagt, dass ihr euch dann mehr Unterstützung von beiden Seiten – von Deutschen und unter Syrer*innen – wünschen würdet. Welche Art von Unterstützung möchtet ihr gerne mehr sehen?

Mohammad: Ich arbeite hier, und habe deutsche Freunde, aber es gibt viele Syrer*innen, die gar keine Verbindung in die deutsche Gesellschaft haben. Da könnten syrische Geflüchtete kleine Organisationen oder Vereine gründen, die andere psychisch unterstützen.…

Ahmed: Ich glaube, Organisationen helfen zwar, aber am Ende liegt es an den Menschen selbst. An den Menschen, die zum Beispiel ihre geflüchteten Nachbarn mal zu sich einladen, zum Fußball gucken mitnehmen, oder oder. Wir erwarten ehrlich gesagt keine Lösung von der Regierung, sondern zählen eher auf die Offenheit der Gesellschaft. Ich sehe oft auf TikTok Witze darüber, wie schwierig es ist, in Deutschland Freunde zu finden. Das können wir sehr gut verstehen.

Emily: Einsamkeit ist ein zentrales Thema in next station. Habt ihr das Gefühl, dass unter Geflüchteten über Einsamkeit gesprochen wird?

Ahmed: Jeder hat das Problem mit Einsamkeit, und zwar aus folgenden Gründen: Wer aus Syrien nach Deutschland kommt, muss die ersten drei Jahre wirklich ackern, denn man muss ein Leben von Null anfangen. Daher kommt die Einsamkeit: Anstatt Freunde zu finden, müssen viele noch einen Nebenjob am Wochenende annehmen, damit sie sich selbst oder ihre Familie in Syrien unterstützen können. Außerdem werden viele Geflüchtete in Dörfer geschickt, wo sie keinen Anschluss an die Gesellschaft finden. Und ihre syrischen Freund*innen sind über ganz Deutschland verteilt. So vereinsamt man ganz schnell.

Emily: Bräuchte es mehr Angebote zu psychischer Gesundheit, die sich speziell an Geflüchtete richten?

Ahmed: Ja, auf jeden Fall, das fehlt sehr. Ich weiß, dass auch Deutsche mehrere Monate auf einen Termin bei Psycholog*innen oder Psychiater*innen warten müssen. Also dieses Problem betrifft nicht nur uns Syrer*innen, sondern die ganze Gesellschaft.

Aber man kann ja auch klein anfangen mit einer Telefonnummer, wo man Hilfe auf Arabisch erhält, wenn man Probleme hat. Oder als größeres Projekt bräuchte jede Stadt eine Beratungsstelle, wo Geflüchtete psychische Unterstützung erhalten. Es gibt sehr viele Beratungsstellen, an die man sich wenden kann, wenn man Arbeit oder Unterstützung im Asylprozess sucht. Aber Angebote für psychische Gesundheit fehlen total.

Emily: Habt ihr selbst Strategien entwickelt, mit Einsamkeit umzugehen?

Mohammad: Ich versuche, nicht allein zu bleiben. Manchmal braucht man das natürlich, aber man sollte nicht übermäßig allein sein. Und mit echten Menschen sprechen, mit den Eltern zum Beispiel. Nicht nur mit dem Internet.

Ahmed: Ja, viele telefonieren oft mit Freunden in Deutschland oder mit den Eltern, um sich weniger einsam zu fühlen. Und man findet immer jemanden, der dieselben Probleme hat. Wir spielen zum Beispiel oft Karten zusammen, oder versuchen immer sonntags etwas zu machen: Frühstücken gehen, Spazieren, uns besuchen. Das muss nichts Großes sein, Hauptsache man verbringt Zeit zusammen. Und Hobbys helfen auch. Ich habe zum Beispiel über einen Judo-Verein Freunde kennengelernt, das hat mir auch Zugang zur deutschen Gesellschaft gegeben.

Mohammad: Ja, man muss sich einen Ruck geben. Denn von selbst kommt das nicht.


Emily: Als ich den Film gesehen habe, dachte ich an
einen Artikel, denn unser Chefredakteur Hussam mal geschrieben hat. Dort sagt er, dass für ihn Integration bedeutet, keine Angst mehr zu haben, hier zu sterben. Ich habe mich gefragt, ob ihr diesen Satz nachvollziehen könnt…

Mohammad: Oh, das ist ein sehr schwieriges Thema.

Ahmed: Ich kenne selbst Menschen, die 50 Jahre in Deutschland gelebt haben und hier gestorben sind. Trotzdem haben sie sich gewünscht, in ihrer Heimat begraben zu werden. Aber wenn es um Integration geht, dann bedeutet das für mich: Sich komplett als Teil der Gesellschaft betrachten zu können. Ich glaube, manchmal bemüht man sich in Deutschland sehr viel um die Definition von Integration – anstatt einfach für Integration zu arbeiten.

Mohammad: Das ist leider der Fall. Und viele Syrer*innen, die schon eingebürgert und „offiziell“ Deutsche sind, werden immer noch als Ausländer betrachtet.

Ahmed:  Für viele ist Integration unsere Aufgabe. Aber die Wahrheit ist: Integration hat zwei Seiten. Wir müssen die Kultur respektieren, uns an die Regeln halten und für uns selbst sorgen. Aber die andere Seite muss uns eben auch akzeptieren.

Emily: Und es muss Geflüchteten möglich gemacht werden, für sich selbst zu sorgen, oder? Das geht ja schlecht, wenn es einem ganz schwierig gemacht wird, eine Ausbildung oder eine Arbeit zu finden.…

Ahmed: Ja! Next station konnte realisiert werden, weil die AGIJ e.V. und Mitarbeiter*innen der Sozialbehörde uns eine Chance gegeben haben. Am Ende geht es um diese Offenheit: Jemandem eine Chance zu geben, oder ihn einfach mal einzustellen.

Fast jede Erfolgsgeschichte eines Geflüchteten in Deutschland beruht zur Hälfte darauf, dass die Person von jemandem eine Chance oder Hilfe erhalten hat. Das machen tatsächlich viele Rentner*innen in Deutschland. Es wird häufig vergessen, aber Rentner*innen haben fast so viel wie die Regierung gearbeitet: Sie haben in Asylunterkünften Deutschunterricht gegeben, beim Ausfüllen von Anträgen geholfen oder sind mit zu Ämtern gekommen.

Emily: Wollt ihr ganz zum Schluss noch etwas zu eurem neuen Filmprojekt erzählen? Ich habe gehört, da ist schon etwas in Planung…

Mohammad: Wir können noch nicht allzu viel verraten, aber unser neuer Film kommt wahrscheinlich nächstes Jahr im April. Er wird ungefähr 15 Minuten lang sein und sich um Schuld drehen. Und er wird noch trauriger als next station sein. Er grinst

Ahmed: Wir versuchen durch unsere Filme Licht auf Dinge zu werfen, die man nicht genug sieht. Auch das Thema Schuld ist schwierig und belastend, aber es ist wichtig, darüber zu sprechen.

Mohammad: Und das ist echt viel Arbeit. Wir haben sogar ein Urlaubssemester beantragt, um den nächsten Film drehen zu können. Es ist so viel Arbeit, aber es macht sehr Spaß.

Emily: Vielen Dank für eure Zeit!

 

Über den Film berichtete kohero bereits.

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