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Lüneburger Tafel: Die Lage ist angespannt

Konstanze Dahlkötter ist seit 2009 ehrenamtlich bei der Lüneburger Tafel e. V. tätig und seit 2016 Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins. Mittlerweile arbeitet sie dort durchschnittlich vier bis fünf Tage in der Woche ehrenamtlich, wodurch sie manchmal an ihre Grenzen stößt.

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Fotograf*in: Monika Stawowy un Unsplash

Durch den großen Andrang haben viele Tafeln in Deutschland Aufnahmestopps verhängt, weil sie nicht mehr über die Kapazitäten verfügen, neue Kund*innen aufzunehmen. In Lüneburg musste man trotz der angespannten Lage noch nicht über solch drastische Maßnahmen nachdenken. Konstanze Dahlkötter von der Lüneburger Tafel e. V. betont immer wieder, „dass wir die Leute versorgen, die bei uns anklopfen und unsere Hilfe wirklich brauchen“. Dennoch wisse sie nicht, was die Zukunft bringen werde. Die Mitarbeitenden hätten bereits jetzt ihre Belastungsgrenzen erreicht, denn der Andrang habe sich mehr als verdoppelt.

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie mit Ihrer Tafel im Moment? Was macht Ihnen die größten Sorgen?

Ich habe Angst davor, dass ich morgen nicht mehr alle Kund*innen versorgen kann. Wir versorgen gerade etwa 650 Familien, das heißt über 1.800 Menschen. Das ist eine ganze Menge für die Größe einer Stadt wie Lüneburg und sorgt für eine große Belastung für alle, die bei der Tafel mithelfen. Zumal die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Tafel oft schon im Rentenalter sind und die Tafel mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen hat. Zudem sind unsere Räumlichkeiten zu klein, um dem großen Ansturm gerecht zu werden.

 

Menschen mit Migrationserfahrung und Fluchterfahrung sind statistisch gesehen besonders häufig von Armut betroffen. Würden sie sagen, das spiegelt sich in Ihrer Kundschaft wider? Hat sich zum Beispiel die EU-Osterweiterung und die damit verbundene Freizügigkeit auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Den Krieg in Syrien haben wir 2015 extrem gemerkt. Auch kommen seit der EU-Öffnung mehr Menschen aus den ehemaligen Ostblockländern zu uns, aber das ist nicht so stark ausgeprägt. Durch den Krieg in der Ukraine hat sich das Bild jedoch deutlich verschoben. Es kommen weniger Deutsche – dafür mehr Migrant*innen und Geflüchtete.

 

„Wir haben im Moment jede Woche bis zu 30 Neuanmeldungen“

 

Wenn Sie die Folgen des Syrien-Kriegs mit der aktuellen Situation des russischen Kriegs in der Ukraine vergleichen: Inwiefern unterscheiden sich die Auswirkungen auf Ihre Arbeit?

Es standen damals täglich 50 und mehr aus Syrien geflüchtete Menschen vor uns, die Lebensmittel brauchten. Aber zur Zeit des Syrien-Konflikts konnten wir das anders aufteilen. So eine Situation wie im Moment haben wir zuvor noch nie erlebt. Das kann man sich als Außenstehende*r schwer vorstellen.

 

Worin bestehen die Unterschiede?

Als die Syrer*innen vor dem Krieg flüchteten, waren wir am Anfang mit großen Menschenmengen konfrontiert, aber dann wurde es weniger. Zurzeit spüren wir von einem Rückgang nichts: Wir haben im Moment jede Woche bis zu 30 Neuanmeldungen. Auch der Anteil an Geflüchteten ist noch höher als zuvor.

Die Situation hat sich auch dadurch geändert, dass wir weniger Lebensmittel bekommen. Damals konnten wir mehr Lebensmittel pro Kopf verteilen. So haben wir bei Familien mit acht Personen auch acht Joghurts herausgeben. Je nachdem, wie viele Lebensmittel wir erhalten, können wir heute nur noch drei bis vier Joghurts pro Familie verteilen. Das sind die Herausforderungen, mit denen wir täglich zu kämpfen haben.

 

Wie gehen Sie damit um, dass unter den Menschen auch welche sind, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen?

Zum einen übersetzen wir mit Hilfe unserer Handys, anders würde das gar nicht funktionieren. Zum anderen haben wir eine Frau gefunden, die Russisch spricht und bei der Antragsannahme hilft. Das ist ein echter Glücksfall! Zum Teil stehen die Menschen vor dem Nichts und ohne irgendwelche Papiere vor uns. Gerade in solchen Fällen ist die Kommunikation schwierig. Aber zur Not klappt es auch mit Händen und Füßen.

 

„Es gibt viele verschiedene Schicksale, mit denen wir hier konfrontiert werden“

 

Wie gehen Sie persönlich mit den schweren Schicksalen und Eindrücken um, die Ihnen in Ihrer Arbeit zwangsläufig begegnen?

Als ich angefangen habe, hier zu arbeiten, haben mich die Schicksale, die hinter den Menschen stehen, ziemlich mitgenommen. Das merkte ich vor allem beim ersten Zusammentreffen, der Antragsannahme. Mir ist wichtig, an dieser Stelle zu sagen, dass es jede*n treffen kann! Es kann einen Selbstständigen treffen, der sich nicht abgesichert hat. Eine andere Person hatte einen Unfall und kann nicht mehr arbeiten oder es sind Rentner, die in Altersarmut leben. Es gibt viele verschiedene Schicksale, mit denen wir hier konfrontiert werden.

 

Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen die Erlebnisse der Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine sehr nahe gehen?

Ja, es geht mir sehr nahe, wenn sie über ihre Situation berichten und ihre Geschichten erzählen. So war es auch bei einer Ukrainerin, der ich eine Berechtigung ausstellen wollte und meinte: „Schauen wir mal, vielleicht können Sie in einem halben Jahr wieder zurück in die Ukraine.“ Darauf entgegnete sie: „Ja, wo soll ich denn hin? Ich habe kein Haus mehr, die Schule ist weg, es ist nichts mehr da.“

Ein anderes Mal kam eine ältere Dame aus der Ukraine zu uns, die nichts mehr hatte und weinte. Da habe ich einfach spontan aus meinem Portemonnaie 20 Euro genommen und ihr mein Kärtchen mitgegeben. Ich sagte zu ihr: „Wenn Sie irgendwann einmal in der Lage dazu sind, können Sie es mir zurückzahlen.“ Ich habe eigentlich nicht fest damit gerechnet es wiederzubekommen. Doch schon nach kurzer Zeit habe ich die 20 Euro zurückbekommen. Das war natürlich schön. Ich bin mir aber bewusst, dass ich solche Hilfe eigentlich nicht anbieten darf, weil ich ja nicht jedem etwas aus eigener Tasche geben kann. Aber ich denke, bei solchen Eindrücken ist das einfach menschlich.

 

„Ich mache mir Sorgen, dass die Spendenbereitschaft abnimmt“

 

Gibt es Konflikte und Diskriminierung der Kunden untereinander, gerade jetzt bei der Ressourcenknappheit, unter der die Kund*innen leiden?

Ich muss sagen, dass viele Kund*innen dankbar sind, dass wir für sie da sind. Man hört auch mal ein Dankeschön. Das ist für die Arbeit und die eigene Motivation wichtig, denn ohne solche Momente, in denen die Arbeit gewürdigt wird, würde es nicht so gut bei uns laufen. Natürlich gibt es bei den Kund*innen auch Konkurrenz untereinander. Manche sind beispielsweise enttäuscht, dass eine Familie genauso viel bekommt wie ein Zwei-Personen-Haushalt. Aber im Moment können wir das anders nicht umsetzen.

Wir machen die Körbe fertig und jede Familie bekommt dasselbe. Wir verteilen die Lebensmittel an vier Tagen in der Woche an 150 – 170 Familien pro Tag. Wir sagen immer, wir können den Kühlschrank nicht ganz füllen, aber wir geben gerne etwas dazu. Mich macht sehr traurig, dass es manchmal so wenig ist. Wir bekommen aber zum Glück zurzeit verstärkt Unterstützung durch Lüneburger Anwohner*innen oder lokale Firmen, die uns Spenden und Lebensmittelgutscheine vorbeibringen. Das ist so toll und so wichtig! Denn ohne diese Hilfe könnten wir in dieser Form nicht mehr bestehen. Trotzdem weiß ich nicht, was im nächsten Jahr sein wird, und ich mache mir Sorgen, dass die Spendenbereitschaft abnimmt.

 

Haben Sie den Eindruck, dass sich Kund*innen schämen, wenn sie das erste Mal die Tafel besuchen? Wie gehen Sie mit solchen Situationen um?

Bei vielen Neukund*innen ist schon ein Schamgefühl zu spüren. Gerade bei älteren Kund*innen, die im Ruhestand sind. Die brauchen manchmal einen Anstoß oder einen Nachbarn, der mit ihnen herkommt. Wenn die Menschen dann zwei-, dreimal hier waren, merken sie schnell, dass unsere Kund*innen sich in der gleichen Situation befinden und ihr Schicksal teilen.

 

„Wir versuchen durch unseren kleinen Beitrag, die Menschen finanziell zu entlasten“

 

Das Angebot der Tafel soll Menschen gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, indem sich die Menschen idealerweise in anderen Lebensbereichen mehr leisten können. Ist das noch zu gewährleisten?

Wir versuchen durch unseren kleinen Beitrag, die Menschen finanziell zu entlasten. Damit die Oma beispielsweise auch mit ihrer kleinen Rente ihren Enkeln etwas zu Weihnachten schenken kann. Bei manchen Familien geht es um die Existenzsicherung. In solchen Fällen rückt dann die Nutzung eines Kulturangebots oder die aktive gesellschaftliche Teilhabe in weite Ferne.

 

Würden Sie sagen, dass sich Ihre Kundschaft in der letzten Zeit verändert hat und auch Menschen mit festen, aber geringen Einkommen Ihre Hilfe in Anspruch nehmen?

Menschen mit festen Einkommen sind noch zaghaft. Es wenden sich eher Menschen an uns, wenn sie in die Arbeitslosigkeit geraten sind. Trotzdem melden sich immer mehr Menschen, die bis vor kurzem noch ohne unsere Hilfe ausgekommen sind. Das können zum Beispiel alleinerziehende Elternteile mit mehreren Kindern sein. Es bleibt abzuwarten, was der Winter mit sich bringt. Ich könnte mir vorstellen, dass sich dieser Trend angesichts der steigenden Kosten verstärkt.

 

„Wir wissen natürlich nicht, welche Kosten und Krisen in Zukunft noch auf uns zukommen“

 

Haben Sie Forderungen an die Politik? Wie könnte sich Ihre Situation und die Ihrer Kund*innen verbessern?

Ich würde mir ein Gesetz wie in Frankreich wünschen, bei dem Unternehmen und Supermärkte verpflichtet werden, Hilfsorganisationen Lebensmittel zu spenden. Es ist bei uns in Deutschland immer noch leichter, Lebensmittel wegzuschmeißen, anstatt sie der Tafel bereitzustellen. Daher wird immer noch viel zu viel weggeschmissen.

 

Wie können Privatpersonen am besten helfen? Was wird am meisten gebraucht?

Im Moment brauchen wir tatsächlich am dringendsten Lebensmittelspenden oder Lebensmittelgutscheine, damit wir unsere Kund*innen weiterhin versorgen können. Das würde ich mir sehr wünschen. Finanziell kommen wir momentan mehr oder weniger klar, vor allem durch die Mithilfe der Lüneburger Bürger*innen. Aber wir wissen natürlich nicht, welche Kosten und Krisen in Zukunft noch auf uns zukommen.

 

Mehr zum Thema Armut findest du hier und in der multivitamin-Folge Klassismus & Rassismus – Wie hängen Armut und Migration zusammen?.

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