Der 26-jährige palästinensische Aktivist und Journalist Basil al Adraa lebt in dem Dorf At-Tuwani in der Gemeinde Masafer Yatta in den South Hebron Hills im besetzten Westjordanland. Er dokumentiert das alltägliche Leben unter militärischer Besatzung in der Verwaltungszone C, in der sein Dorf liegt. Dort kommt es regelmäßig zu Zusammenstößen zwischen der lokalen palästinensischen Bevölkerung und dem israelischen Militär sowie gewalttätigen israelischen Siedler*innen.
Im Mai besuchte ich ihn dort. Noch am selben Abend werde ich Zeugin einer dieser Auseinandersetzungen. Am nächsten Morgen sprechen wir über die Gewalt, die die lokale Bevölkerung erlebt. Und über die Einschränkungen durch die Militärbesatzung, die die palästinensische Bevölkerung täglich erlebt. Wir tauschen uns über einen aktuellen Gerichtsbeschluss aus, der zur weiteren Vertreibung und Enteignung der ansässigen Palästinenser*innen führt.

Gewalt von Siedler*innen
Das Dorf At-Tuwani ist überschaubar, es besteht aus wenigen Straßen. Es befindet sich auf einem Hügel, rundherum blickt man auf die Weite der umliegenden Hügel der South Hebron Hills. Man hört die Vögel zwitschern, kein städtischer Lärmpegel, die Luft ist frisch. In der Ferne sieht man die Mauern der israelischen Siedlungen Havat Ma‘on und Ma’on, etwa 300 Meter – fußläufig – von Basil‘s Heimatdorf entfernt.
Das Westjordanland gehört nicht zum Staatsgebiet Israels und ist seit dem Krieg im Jahr 1967 unter israelischer militärischer Besatzung. Mit den Oslo-Abkommen in den Jahren 1993 und 1995 wurde das 5,860 km² große Gebiet in die Verwaltungszonen A, B und C aufgeteilt. Die Zone C, die über 60% der Fläche ausmacht, steht unter direkter israelischer Kontrolle. In dem Gebiet leben 300.000 Palästinenser*innen und 400.000 israelische Siedler*innen. Der Siedlungsbau begann dort nach dem Kriegsende im Jahr 1967.

Die Siedlungen im Westjordanland wären nach internationalem Recht (Völkerrecht) illegal. Demzufolge ist es einer Besatzungsmacht verboten, ihre eigene Bevölkerung in eroberten Gebieten anzusiedeln. Basil berichtet, dass in den Siedlungen um sein Dorf viele rassistische Siedler*innen leben. Diese gehören häufig radikalen religiösen oder fundamentalistischen politischen Strömungen an und gehen in der Regel besonders gewalttätig vor.
Fast täglich kommt es zu Angriffen von Siedler*innen gegen die palästinensische Bevölkerung der umliegenden Dörfer. Es werden Steine in Fenster, Autos und auf Menschen geworfen. Sie kommen in die Dörfer, teilweise maskiert, mit Hunden und Waffen oder Stöcken bewaffnet, und greifen die Menschen dort an. Auch kommt es zu Zerstörungen von Häusern und Feldern oder der Durchtrennung von Wasserleitungen. Basil selbst wurde schon mehrmals von Siedler*innen angegriffen und verletzt. 2019 muss er deswegen sogar ins Krankenhaus.
Schirmherrschaft der israelischen Soldat*innen
All diese Angriffe erfolgen unter der Schirmherrschaft der israelischen Soldat*innen. Sie schützen eben diese Siedler*innen und deren Taten, anstatt die palästinensische Bevölkerung zu beschützen. Und das, obwohl es ihre explizite Pflicht wäre, wenn man den Verantwortlichkeiten der Verwaltungszonen folgt.
Dadurch, dass sie sich in der Verwaltungszone C des Westjordanlands befinden, muss die Bevölkerung Anzeigen über die Gewalt, die ihnen widerfährt, beim israelischen Militär oder der israelischen Polizei erstatten. Laut der israelischen Menschenrechtsorganisation Yesh Din würden 91% dieser Anzeigen geschlossen, trotz Video- und Fotobeweisen. Niemand wird für die Angriffe zur Rechenschaft gezogen. „Dementgegen können Siedler*innen ohne Beweise behaupten, ich hätte einen Stein geworfen und die Polizei wird mich sofort verhaften“, kommentiert Basil. Zusätzlich ist die palästinensische Bevölkerung auch der Gewalt und Ungleichbehandlung des israelischen Militärs ausgesetzt.
Benachteiligung durch die Militärbesatzung

Das Leben der palästinensischen Bevölkerung wird von den israelischen Soldat*innen bestimmt. „Seit ich geboren bin, lebe ich unter den Regeln der Besatzungssoldat*innen, die alles in unserem Leben bestimmen“, so Basil. Palästinenser*innen leben in der Zone C unter Militärgesetz, die israelischen Siedler*innen unter israelischem Zivilrecht. Während israelische Siedler*innen in dem besetzten Westjordanland, zumindest in den Zonen C, alle Freiheiten besitzen, werden der palästinensischen Bevölkerung viele Hürden in den Weg gestellt.
Überall in der Verwaltungszone C gibt es für Palästinenser*innen Checkpoints, Straßensperrungen und Autokontrollen. Ständig werden ihre Dokumente kontrolliert. Dadurch kommt es zu Staus und langen Wartezeiten. Aber auch zu willkürlichen Vernehmungen, Verhaftungen oder dazu, dass Menschen zeitweise festgehalten werden, ohne einen Grund genannt zu bekommen. Dies müssen israelische Siedler*innen nicht durchlaufen.
Es gibt extra Straßen im Westjordanland für sie, die diePalästinenser*innen nicht nutzen dürfen. Dienste wie Busverbindungen würden unterbunden, berichtet Basil. So wird die Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen enorm eingeschränkt. Eine der härtesten Einschränkungen, die häufig in der Vertreibung der lokalen Bevölkerung endet, ist, dass für jegliche Konstruktionen eine Baugenehmigung von den israelischen Behörden benötigt wird. Diese wird ihnen jedoch in den seltensten Fällen erlassen. Dazu gehören der Bau von Häusern, Schulen, Krankenhäusern, Asphaltierung von Straßen, Verlegung von Wasserleitungen und Stromkabeln. Konstruktionen, die für das Leben der Bevölkerung vor Ort notwendig sind, werden durch das Militär verhindert. Werden diese dennoch ohne Genehmigung, die ihnen nicht bewilligt wird, errichtet, zerstört das Militär diese. „Sie haben einem Freund von mir in den Nacken geschossen, er ist nun gelähmt, und das nur, weil er einen Generator in seinem Haus hatte“, teilt Basil.
Den israelischen Siedler*innen hingegen würde alles gewährt werden. Mehr noch, der Staat selbst fördert und finanziert den Siedlungsbau aktiv mit, indem die Aktivitäten militärisch abgesichert und systematisch unterstützt werden.
EU-Gelder als humanitäre Hilfe
Basil berichtet von den EU-Geldern, die als humanitäre Hilfe gesendet werden. Die EU schickt Geld, damit Palästinenser*innen in den Zonen C Häuser bauen können. Dabei wissen sie, dass die Häuser, Schulen und Krankenhäuser letztendlich wieder vom israelischen Militär zerstört werden.
Er bedauere, dass die europäische Politik letztendlich nicht wirklich etwas tun würde, um die Häuserzerstörungen und die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung zu stoppen. „Denn das ist wofür die Gelder, die an Israel gesendet werden, genutzt werden. Sie unterstützen, dass wir verhaftet und getötet werden, unsere Häuser zerstört und wir von unserem Land vertrieben werden“, kritisiert Basil.
Proteste von Aktivist*innen
Protest gegen diese Zustände ist nicht gerne gesehen. Palästinensische Aktivist*innen, die sich den Kräften widersetzen, riskieren, verhaftet, verletzt oder im schlimmsten Fall getötet zu werden. Selbst, wenn sie gewaltfreien Widerstand leisten. Außerdem kommt es regelmäßig zu nächtlichen Durchsuchungsaktionen in Häusern, um die Menschen einzuschüchtern, zu provozieren und in Angst zu versetzen. Das ist besonders traumatisch für die Kinder, die das mitbekommen. Das israelische Militär verwendet dabei auch Blendgranaten, die vor die Türen geworfen werden.
Auseinandersetzung am Abend des Besuchs
Am Abend, an dem ich Basil besuche, kommt es zu einer Auseinandersetzung mit dem israelischen Militär, weil ein Bewohner des Nachbardorfes einen Schuppen neben seinem Olivenhain baut. Basil kommt, um ihn zu unterstützen und mit seiner Kamera die Situation zu dokumentieren. Die israelischen Soldat*innen haben keine rechtlich gültige Verordnung für das Verbot der Konstruktion – obwohl auch dann die Frage der Rechtmäßigkeit der Unterlassung im Raum stehen würde. Obwohl Basil sich als Journalist identifiziert, wird versucht, ihm seine Kamera zu entreißen und ihn am Filmen zu hindern. Man droht ihm sogar mit einer Verhaftung. Er wird zu Boden geschmissen und von den Soldat*innen mitunter mit ihren Gewehren geschlagen. Zwar kann er sich befreien, muss wegen seiner Verletzungen nach dem Angriff aber ins Krankenhaus. Er teilt mir mit, dass es sein könne, dass das israelische Militär in der Nacht sein Haus stürmt. Dazu kommt es dann erst zwei Wochen später. Am nächsten Morgen kommen drei Mitarbeiter*innen der israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem um den Vorfall zu dokumentieren und Zeug*innenaussagen aufzunehmen.
TW: Gewalt! In diesen Videos sieht man, wie Basil von den Soldat*innen festgehalten und auf den Boden gedrückt wird.
#SaveMasaferYatta
Am 04.05.2022, drei Tage bevor ich Basil besuche, endet ein 22-jähriger Gerichtsprozess um die Gemeinde Masafer Yatta. Der Beschluss des obersten Gerichtshofes Israels lautet, dass die Gemeinde Masafer Yatta, nun offiziell, zu einer militärischen Feuerzone erklärt wird. 2.800 Palästinenser*innen müssen ihre Häuser in dieser Gegend verlassen. Beziehungsweise das Militär räumt und zerstört ihre Häuser.
Schon in den frühen 80er-Jahren hat das israelische Militär die Gegend von Masafer Yatta zu einer militärischen Feuerzone erklärt. Das hatte die Evakuierung der ansässigen palästinensischen Bevölkerung zur Folge. So kam es beispielsweise 1999 zu einer massiven Zwangsräumung und Häuserzerstörung. Hierbei wurden die Bewohner*innen sowie ihre Habseligkeiten und Tiere in Trucks verladen und außerhalb der Feuerzone abgesetzt. Es gab keine Unterstützung für den Bau neuer Häuser oder Behelfsunterkünften.
Seitdem lief der Gerichtsprozess. Die gesamte Gemeinde kämpfte gegen den Beschluss, um ihr Land und ihre Häuser zu retten. Denn laut internationalem Völkerrecht ist es verboten, eine Bevölkerung aus ihrem Land zu vertreiben und besetztes Land für militärische Übungen zu nutzen. Es gibt viele Nachweise für das Gericht, um nachzuvollziehen und zu bestätigen, dass diese Gemeinden schon bestanden, bevor das Gebiet vom Militär als Feuerzone erklärt wurde. Kritisiert werden diese militärischen Feuerzonen auch, weil ein Großteil dieser Gebiete praktisch gar nicht militärisch genutzt wird. „Es ist ein brutales Werkzeug, um uns gewaltsam aus unserem Lebensraum zu vertreiben“, betont Basil, „das israelische Militär hat kein Recht dazu, uns aus unseren Häusern zu vertreiben, wir haben keinen anderen Ort, an den wir gehen können. Dieses Land war für Generationen unsere Heimat.“
Schon vor dem Beschluss gab es Zwangsräumungen und Häuserzerstörungen. Aber seit dem Beschluss im Mai kommt es noch regelmäßiger zu massiven gewaltsamen Vertreibungen der palästinensischen Bevölkerung und der Zerstörung ihrer Häuser durch Bulldozer. Teilweise wurden die Zelte, in denen die vertriebenen Palästinenser*innen untergekommen sind, nach einigen Wochen wiederum von diesen Bulldozern erneut zerstört, weil sie ohne offizielle Baugenehmigung aufgestellt wurden. Die lokale palästinensische Bevölkerung ist dem schutzlos ausgesetzt.
Internationale Solidarität
Um Aufmerksamkeit und Unterstützung für ihre Situation zu generieren, wurde die Kampagne #SaveMasaferYatta ins Leben gerufen. „Wir bitten alle Menschen auf der ganzen Welt, denen Menschenrechte am Herzen liegen, denen es am Herzen liegt, die Unterdrückung gegen uns zu beenden, diese Besatzung zu beenden, uns in dieser Kampagne zu unterstützen, ihre Stimme zu erheben, unsere Geschichten in den Medien zu teilen oder wenn es möglich ist, mit uns vor Ort zu sein“, so Basil.
Die palästinensische Bevölkerung fühlt sich vom System im Stich gelassen, da nichts geschieht, um ihre Rechte und ihre Bedürfnisse zu schützen. Es wird gefordert, dass die internationale Gemeinschaft sich für die Freiheit und die Menschenrechte von Palästinenser*innen interessiert und engagiert. Das kann geschehen, indem Druck auf die eigene Regierung ausgeübt wird zur Achtung des Völkerrechts. Diese wiederum kann diplomatischen und ökonomischen Druck ausüben, damit Menschenrechte und das Völkerrecht respektiert werden.
Hier könnt ihr einen Kommentar zum Auftritt des Palästinenser Präsident Abbas am 16.8.2022 in Berlin lesen.
Eine Antwort
Der Artikel ist super interessant geschrieben, vor allem die Beschreibung des Ortes erzeugt beim Lesen Bilder im Kopf. Gut auch der geschichtliche Abriss der politisch prekären Situation in den immer noch besetzten Gebieten Palästinas. Zusammen mit der persönlichen Erfahrung vor Ort sehr bewegend.Chapeau!