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Nach jeder Willkommenskultur kommt die Enttäuschung

Hussam schreibt in der heutigen sowalif-Kolumne über das aktuelle ehrenamtliche Engagement und die Willkommenskultur. Er fragt sich, inwiefern dabei auf die tatsächlichen Bedürfnisse Geflüchteter eingegangen wird und wann sich die anfängliche Euphorie, zu helfen, legt.

Fotograf*in: Chris Liverani on Unsplash

Ein 40-jähriger deutscher Mann ohne Migrationshintergrund engagiert sich mit Feuereifer als Ehrenamtlicher. Er hat einen sicheren Job und verdient gutes Geld. Er schaut und liest oft Nachrichten. Durch Corona hat er mehr Zeit zu lesen, auch macht er sich Sorgen und informiert sich deshalb vermehrt.

Dieser Mann hat viel über ukrainische Geflüchtete gelesen und er glaubt, dass die deutsche Gesellschaft diesen ukrainischen Frauen und Kindern helfen muss, auch weil sie eine ähnliche Kultur, die gleiche Hautfarbe und denselben Glauben haben. Sie sind zwar orthodox und er ist katholisch, aber was ist da schon der Unterschied? Er weiß es nicht und es interessiert ihn auch nicht. Wichtig für ihn ist, dass sie Christ*innen sind.

Dieser Mann ist zu einer Unterkunft gegangen und wollte eine ukrainische Frau mit Kindern unterstützen, ihr das Leben in Deutschland einfacher machen. Das Thema Geflüchtete und Asyl ist zwar schon seit langem in Deutschland aktuell, aber er kam erst jetzt auf die Idee zu helfen, weil es sich bei den Geflüchteten um weiße Frauen handelt.

Er hat zu einer Frau und ihrem zehnjährigen Sohn Kontakt aufgenommen, eine kleine Wohnung für sie gemietet, einen Deutschkurs gebucht und bezahlt. Er hat sogar einen einfachen Job mit 12 Euro Stundenlohn für sie gefunden.

Jetzt ist er total enttäuscht, weil diese Frau nicht arbeiten möchte. Er hat es überhaupt nicht verstanden. Warum nimmt diese Frau seine Hilfe nicht an und macht nicht das, was er ihr vorschlägt?

Euphorie wird von der Realität eingeholt

Solche Geschichten werden wir in Zukunft vermehrt hören, weil die anfängliche Euphorie der Willkommenskultur von der Realität eingeholt wird und es dadurch zu Enttäuschungen kommen wird.

Schon 2015 haben viele Ehrenamtliche diese Phase erlebt. Viele von ihnen wollten gerne Menschen mit Fluchtgeschichten unterstützen, aber sie sahen deren Bedarf nur aus ihrer eigenen Perspektive. 

Viele Ehrenamtliche helfen, ohne sich zu fragen, was die Menschen mit Fluchtgeschichte tatsächlich brauchen. Sie sehen den Bedarf und die Integration leider nur aus ihrer eigenen Perspektive. Viele Ehrenamtliche haben sich 2016 und 2017 damit beschäftigt, dass die Geflüchteten nicht verstanden haben, was gut für sie ist, dass sie nicht arbeiten und lernen wollten. Dass sie andere Prioritäten hatten als die ihrer ehrenamtlichen Helfer. Viele Ehrenamtliche haben damals Menschen mit Fluchtgeschichte geholfen und werden das auch in Zukunft tun. Auch ich habe diese Unterstützung bekommen und ohne diese Hilfe hätte ich diese Gesellschaft nicht verstanden und hätte mich nicht integrieren können.

Perspektivenwechsel

Aber es ist wichtig, dass die Helfer*innen und Unterstützer*innen versuchen, die Perspektive der geflüchteten Menschen zu verstehen und dadurch besser verstehen können, was diese brauchen. Wir sollten uns langsam auf die Phase der Enttäuschung auf der Seite der Ehrenamtlichen, der Politiker*innen und Journalist*innen  einstellen. Diese Phase der Enttäuschung nach den Anfängen der Willkommenskultur wird auf jeden Fall auch dieses Mal kommen.

Viele erklärten sich die Missverständnisse durch die unterschiedliche Kultur. Zum Teil stimmt das auch. Aber von noch größerer Bedeutung ist, dass die Ehrenamtlichen nicht verstanden haben, dass Menschen mit Fluchtgeschichten andere Sorgen und Prioritäten haben. Weil sie an ihre Heimat denken, weil sie sich um ihre Familie in der Heimat sorgen. Sie brauchen Zeit, um zu verstehen, dass sie sich ein neues Leben aufbauen dürfen und können. Dass sie in Sicherheit leben. Dass sie sich hier integrieren können und wollen, nicht nur sollen.

Die Enttäuschung des Mannes, der die ukrainische Familie unterstützt hat, ist umso größer, weil diese, wie er denkt, aus einer ähnlichen Kultur kommen. Er bedenkt jedoch nicht, dass die ukrainische Kultur anders ist als die deutsche. Das beachten viele deutsche Menschen ohne Migrationsgeschichte nicht, weil sie die Unterschiede an der Religion, Hautfarbe und dem Kontinent festmachen. Für die Ehrenamtlichen, die meist keine eigene Fluchtgeschichte haben, ist es wichtig, dass sie ihren Fokus nicht auf die unterschiedliche Kultur richten, sondern versuchen zu verstehen, welche Hilfe Menschen mit Fluchtgeschichte brauchen.

Am Ende möchte ich euch fragen, ob auch ihr eine Phase der Enttäuschung mit alten oder neuen Geflüchteten erlebt habt? Was genau ist passiert? Ich freue mich auf eure Antworten, hier hier als Kommentar oder als Mail an mich. 

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Autorengruppe
Hussam studierte in Damaskus Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen. Parallel dazu arbeitete er als schreibender Journalist. Seit 2015 lebt er in Deutschland. Er ist Gründer und Chefredakteur von kohero. „Das Magazin nicht nur mein Traum ist, sondern es macht mich aus. Wir sind eine Brücke zwischen unterschiedlichen Kulturen.“

2 Antworten

  1. Hello,

    Thank you for your insightful article. You touch upon several important issues regarding the „Willkommenskultur“ in Germany, and perhaps in many Western cultures. I believe that you are spot on with your statement that the many persons who want to help refugees do not understand the differences in mentalities that come with a difference in cultures. Before valiantly wanting to help refugees, helpers should receive some training around what motivates them to help refugees? What are their own cultural values and are they able to completely accept the cultural and personal values of the persons they are trying to help? Assisting refugees (vulnerable persons from other cultures in need of help) also means learning about their cultures, their stories, their wishes. Yes, there should be a certain expectation that refugees need to adjust to their host culture to some degree, but, notwithstanding the German gentleman’s good intention, the host culture’s values should not be imposed onto the refugees seeking help. Adjusting to a new culture takes time and research shows us again and again, that the true adjustment does not happen until the second generation born into a new country. Until then, the refugee (generally) is lost in a new world; the first generation born is lost between two worlds – the world of the parental culture and the world they were born into, and lastly, the second born generation will (generally) call the country of their birth their home. It is a long and complex process. Thank you for all you do!

  2. Lieber Hussam, liebes Kohero-Magazin,
    danke für den Artikel und dadurch die Anregung von Gedanken und Reflexionen. Gerne würde ich mehr erfahren, was aus Deiner Sicht Menschen mit Fluchterfahrung brauchen? Ein Aspekt nennst Du: Zeit. Mir begegnete auf der Seite der Geflüchteten die Ungeduld. Wie oft habe ich unsere Behörden, Prozesse, Entwicklungen verflucht, weil alles sooo langsam ging. Was ist es, was die Menschen brauchen? Ich wäre dankbar, wenn ich es besser verstehen könnte, aber dazu brauche ich die Unterstützung von Menschen mit Fluchterfahrung, die Offenheit miteinander ins Gespräch zu gehen, den anderen an Gedanken, Gefühlen, Bedürfnissen teilhaben zulassen, um gemeinsam den Weg weiter zugehen.

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