Städte und wir

Die Erfahrung in unterschiedlichen Städten zu leben hat das Potential Menschen zu verändern. Anhand seiner eigenen Geschichte setzt sich Hussam Al Zaher mit seiner Beziehung zu Städten auseinander. Er fragt nach der Bedeutung der Städte für sein Leben und für Integration, ebenso wie nach der Perspektive, die wir auf Städte haben, und nach der Perspektive, die Städte auch auf uns selbst zulassen. Eine Reise von Golan bis nach Hamburg.

Städte
Fotograf*in: Hussam Al Zaher an der Alster 2017.

„Wenn du diese Stadt verstehst, dann verstehst du dich selbst.”

Dieses Zitat habe ich in einem saudischen Film gehört. Ein alter Mann sagte es zu einem jungen Mann.

Dieses interessante Zitat hat mich nachdenklich gemacht. Welche Beziehung haben wir zu den Städten? Warum können wir uns nur verstehen, wenn wir unsere Stadt verstehen?

Meine Erinnerung führt mich in die Zeit, als ich jünger war, in die kleine Stadt in der Nähe von Damaskus, in der ich aufwuchs. Von der ich fast jeden Tag träume. Damals konnte ich mich verstehen, ich konnte mich durch die Blicke meiner Familie, Nachbar*innen, Freund*innen sehen und verstehen. Damals habe ich diese Bedeutung der Stadt noch nicht gesehen, ich habe sie angeschaut wie einen Stern.

 

Flucht durch die Städte

Danach musste ich innerhalb von drei Jahren wegen des Krieges in mehr als zwanzig verschiedene Wohnungen ziehen. Da hatte ich keine große Verbindung zu der Wohnung meiner Eltern.

Schließlich musste ich meine Stadt ganz verlassen und bin nach Istanbul geflohen. Dort hatte ich kein so großes Heimweh, habe meine Stadt nicht so sehr vermisst. Vielleicht, weil Damaskus mich verstoßen hat, weil es seine Kinder nicht mehr in ihren Armen tragen konnte? Oder weil ich mich in Istanbul sehr sicher gefühlt habe als ich in Damaskus war?

Ich wusste damals nicht warum und weiß es auch heute immer noch nicht. Aber als ich in Istanbul war, konnte ich Damaskus verstehen. Ich habe gesehen, wie ähnlich Istanbul und Damaskus sind, nicht nur wegen der Kultur, und Geschichte, auch wegen der Menschen, der Verbindung zwischen der Stadt und den Menschen.

Sowohl Damaskus als auch Istanbul sind Städte der Gegensätze und Widersprüche. Es gibt arme und reiche Stadtteile, schöne Gebiete aber auch hässliche. Diesen Widerspruch können Tourist*innen nicht so deutlich sehen, aber die Zuwander*innen aus anderen Völkern können das spüren und riechen. Diese Städte vererben ihren Kindern diese Widersprüche. Werden sie diesen Widerspruch auch in sich tragen oder sich daran gewöhnen?

Später musste ich diese neue Stadt wieder verlassen, wie ich in meinem Artikel im Szene Magazin, das im April eine Ausgabe über Divers (c)ity veröffentlichte, geschrieben habe. Denn Istanbul bot mir keinen sicheren Ort zum Bleiben und keine Willkommenskultur. So konnte ich mir dort keine Zukunft aufbauen, ohne Asylrecht, ohne Möglichkeit, die Sprache zu lernen, mit sehr eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten. Ich hätte dort nur in einer Fabrik arbeiten können.

Danach bin ich weiter nach Hamburg geflüchtet. Es dauerte eine lange Zeit, bis ich Hamburg richtig sehen und auch verstehen konnte. Der Unterschied zwischen Hamburg und Istanbul ist, dass ich in Hamburg zuerst die Menschen kennengelernt habe und danach durch diese Kontakte die Stadt, während ich in Istanbul die Stadt kennengelernt habe, aber bis jetzt nicht sagen kann, dass ich die Menschen in Istanbul kennengelernt habe. Ich weiß nicht, warum das so ist.

 

In Hamburg

Ich kann mir nicht erklären, warum ich keine Beziehung zu Hamburg ohne die Hamburger* innen aufbauen kann. Warum kann ich Hamburg nur durch die Augen anderer sehen, nicht durch meine eigenen Augen? Warum öffnet Hamburg nicht seine Tür für mich?

Erst jetzt, nach sechs Jahren, kann ich Hamburg langsam sehen und verstehen. Leider sehe ich es nur im Gegensatz zu Istanbul und Damaskus, nicht als eigene neue Stadt. Hamburg ist total anders als Damaskus oder Istanbul, nicht nur wegen der Sonne, wie viele Hamburger*innen sagen. Hamburg bietet sofort viele Möglichkeiten, aber es ist eine sehr vorsichtige Stadt. Hamburg wird nicht schnell zur Mutter für ihre neuen Kinder. Sie ist sehr hart und streng, schön im Sommer und traurig im Winter.

In Hamburg habe ich Heimweh und Sprachweh.

Doch endlich habe ich Hamburg verstanden und die Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer Stadt. Auch die Beziehung zwischen mir und meinen Städten kann ich jetzt verstehen, und ich verstehe, was diese Städte mit mir gemacht haben.

 

Sohn der Städte

Ich habe entdeckt, dass die Städte mich geschaffen haben, dass ich ein Sohn dieser Städte bin.

Die erste Stadt ist Golan, die Heimat meiner Eltern. Durch die Erinnerung und Erzählungen meiner Eltern gehöre ich zu Golan und fühle mich so, als ob ich dort gelebt hätte, obwohl ich nie da war.

Die zweite Stadt ist Damaskus. Zu ihr möchte ich gehören wegen ihrer Geschichte und wegen der Erinnerung an meine Jugendzeit. Denn, wie ich in einem Artikel veröffentlicht habe, ich komme aus der Hauptstadt des Jasmin. Ich bin zwar nur in der Nähe von Damaskus aufgewachsen, aber ich habe in Damaskus studiert und dort die Welt besser verstanden. In Damaskus konnte ich Syrien sehen und habe Syrer*innen aus verschiedenen Städten kennengelernt. Vielleicht ist das der Grund, dass ich zu Damaskus gehöre und nicht zu Syrien? Oder vielleicht wegen der syrischen Identität, die wir als Syrer*innen nicht haben, wie ich in diesem Artikel geschrieben haben. Vielleicht weil ich nur zu Städten gehören möchte oder das besser sagen kann!

Die dritte Stadt ist Istanbul, wo ich gelebt und gearbeitet habe und die mich an meine Heimat Damaskus erinnert, wo ich verstanden habe, was Armut bedeutet. Was es bedeutet, keine Träume zu haben, keine Möglichkeiten. Nur zu arbeiten, um zu existieren.

Die vierte Stadt ist Hamburg, wo ich meine Liebe, und meine zukünftige Familie, meine Träume, meine Arbeit und mich gefunden habe. Wo ich fast jeden Tag Neues lernen kann, wo ich erlebt habe, dass Menschen einfacher zu einer Stadt gehören können als zu einem Land mit seinen Grenzen. Vielleicht, weil die Städte wie eine große Familie sind und von den Menschen erbaut wurden, während die Länder nur durch Krieg und Blutvergießen entstanden sind? vielleicht….

In Hamburg habe ich auch entdeckt, dass Integration ein überregionales Thema ist, aber nur auf  lokaler Ebene können wir sie erreichen. Diese Ebene können die Städte und auch die Länder sein…

 

Verstehen durch Veränderung

Am Ende möchte ich sagen, dass ich jetzt dieses Zitat des älteren Mannes verstehen kann. Es hat mich beeindruckt und es beschäftigt mich.

 

„Wenn du diese Stadt verstehst, dann verstehst du dich selbst.” 

Dieses Zitat kann mein Leben beschreiben, weil ich in verschiedenen Städten leben musste. Ich habe erfahren, wie die Menschen sich im Spiegel ihrer Stadt sehen, wie stark die Städte unseren Blick, unsere Perspektive ändern können. Das macht den Unterschied zwischen Menschen, die nur in einer Stadt gelebt haben und denen, die in vielen verschiedenen Städten gelebt haben. Viele Städte sind sich sehr ähnlich, man findet keine Unterschiede und verändert sich deshalb auch nicht. Und manche Städte sind sehr gegensätzlich, sehr verrückt, schön, sexy, alt, arm, reich, neu. Sie können sich in vielerlei Hinsicht unterscheiden.

Eine Stadt zu verstehen ist nicht einfach, besonders, wenn wir in eine neue Stadt ziehen müssen. Aber vielleicht sollten wir das tun, um uns zu verstehen!! Weil die Städte uns verändern werden. Um diese Veränderung verstehen zu können, sollten wir auch die Stadt verstehen.

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Kategorie & Format
Autorengruppe
Hussam studierte in Damaskus Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen. Parallel dazu arbeitete er als schreibender Journalist. Seit 2015 lebt er in Deutschland. Er ist Gründer und Chefredakteur von kohero. „Das Magazin nicht nur mein Traum ist, sondern es macht mich aus. Wir sind eine Brücke zwischen unterschiedlichen Kulturen.“

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