Journalistische Arbeit – Ein Kommentar

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wird viel über die Rolle der Medien in diesem Krieg gesprochen. Es stellt sich aber auch die Frage, welche Rolle die Medien schon im Vorfeld gespielt haben. Warum herrschte trotz breiten und freien Medienangebot so eine große Überraschung? Und wie kann eine neue Rolle der Medien aussehen? Hussam Al Zaher kommentiert.

Journalistische Arbeit
Fotograf*in: AbsolutVision on Unsplash

An einem sonnigen Sonntag habe ich mit einem deutschen Verwandten und Freund, so wie mit allen anderen zur Zeit auch, über den Angriff auf die Ukraine gesprochen.

Ich habe ihn gefragt: „Warst du überrascht über den großen Angriff Putins auf die Ukraine?”

Er meinte: „Ich war überrascht, aber gleichzeitig war ich überrascht über meine Überraschung. Ich lese sehr viel Zeitung, Zeitschriften, habe Zeitungsabos. Ich sehe und höre, was ARD und der Rundfunk berichten, aber niemand hat sich Sorgen gemacht und das ernst genommen. Die deutschen Medien haben nicht geglaubt, dass so etwas passieren würde. Viele Journalisten haben nicht den Nachrichten des amerikanischen Geheimdienstes geglaubt.”

 

Die neue Rolle der Medien – Warum sind wir eigentlich alle überrascht?

Wir sollten mehr über die neue Rolle der Medien sprechen in Zeiten, in denen wir in einer globalisierten Welt leben und beeinflusst werden von dem, was in anderen Ländern passiert. Und die Frage ist, warum die Medien diese Rolle nicht einnehmen? 

Leider haben die großen deutschen Medien nicht nur über den großen Angriff auf die Ukraine nicht  berichtet, sondern schon vorher, als viele Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak auf dem Weg nach Europa waren. Und das, obwohl es dort schon länger große Kriege gab. Organisationen und Medien kannten die prekäre Situation von Geflüchteten in den weltweiten Camps. 2014 warnte die Welthungerhilfe vor ihrer Unterfinanzierung und die Auswirkungen auf syrische Geflüchtete in Jordanien und Libanon

Nicht nur das. Auch dass der Brexit kommen wird, haben viele für unwahrscheinlich gehalten. Ich kenne, Familien, die haben Wetten abgeschlossen, 50% dafür und 50% dagegen. In Großbritannien war das auch ein Grund, warum viele junge Menschen nicht zur Wahl gingen. Niemand hat Johnson und seine Gruppe ernst genommen, aber jetzt ist er Premierminister. 

Auch Corona war eine große Überraschung für unsere Gesellschaft und die ganze Welt, obwohl die Wissenschaft, Christian Drosten zum Beispiel, seit langer Zeit an Studien arbeitete. Auch darüber haben die Medien nicht berichtet. Als Corona da war, haben wir die Berichte von Christian Drosten gelesen und er war für viele die wichtigste Informationsquelle. Haben wir als Gesellschaft, als Leser*innen und Medien hier versagt?

Die Frage ist, ob die Medien versagt haben? Vielleicht nicht nur die deutschen Medien, sondern Medien in allen westlichen liberalen Ländern? Oder vielleicht haben wir als Leser*innen diesen Berichten nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt? 

 

Auch freie Medien versagen – aber warum?

Ich bin mit propagandistischen Medien aufgewachsen, in denen Journalist*innen schreiben, was die Regierung möchte. Deshalb werden sie langsam bequem, stellen keine kritischen Fragen. So sehen sie nicht die gesellschaftlichen Entwicklungen und auch nicht, was in der Zukunft passieren wird. Deshalb sind wir über nichts überrascht. Weil sowieso alles eine Überraschung ist. Zum Beispiel hat uns der arabische Frühling total überrascht.

Aber warum werden wir in Deutschland von Ereignissen überrascht, obwohl wir in einer demokratischen Gesellschaft leben, in der Journalist*innen viele Freiräume haben und über alles berichten können?

 

Social Media und Wissenschaftsjournalismus

Vielleicht, weil wir Journalist*innen uns zu sehr auf Social Media fokussieren und unsere Themen nur dort finden? Oder weil wir vergessen, direkt in die Gesellschaft zu schauen, was da passiert, wo die Probleme in unserer Gesellschaft liegen? Vielleicht, weil wir Journalist*innen keine gute Beziehung zur Wissenschaft und zu Intellektuellen haben?

Wir laden die immer gleichen Leute für unsere Talkshows ein. Wir laden Leute ein, die in den sozialen Medien aktiv sind, weil wir einen Trend suchen. Die Frage ist, ob wir uns von Algorithmen kontrollieren lassen?  

Die sozialen Medien haben uns viele Perspektiven gezeigt, die wir ohne sie nicht sehen könnten. Aber was ist mit den Intellektuellen? Werden Intellektuelle eingeladen, lassen wir sie nicht sagen, was sie sagen möchten. Sie werden ständig von den Moderator*innen unterbrochen.

Auf jeden Fall sollten wir immer kritische Fragen stellen und nicht nur der Wissenschaft glauben, sondern suchen und schauen, was da ist, welche Perspektiven es gibt. Ein Wissenschaftsjournalist hat mir einmal so schön gesagt, was die Aufgabe von Wissenschaftsjournalismus ist: „Unsere Rolle ist es, nicht nur zu berichten, wenn A sagt, die Sonne scheint, dass die Sonne scheint, sondern nach draußen zu gehen und zu schauen, ob die Sonne scheint oder nicht.”

Es ist aber auch wichtig, die Thesen der Wissenschaftler*innen oder Intellektuellen erst zu verstehen, ihnen die Zeit zu geben, ihre Thesen zu präsentieren und danach Fragen zu stellen.

Hier halte ich neue Formate wie zum Beispiel den Podcast für ein besseres Format als eine Talkshow. Wir können viel über eine Sache lernen, weil viele Podcaster*innen nur eine Person einladen und mit ihr ausführlich über ihre Thesen sprechen. 

Und Interviews mit Wissenschaftler*innen bringt auch viele Abos. Wie Jochen Wegner, Chefredakteur der Zeit Online, in einem Interview mit kress sagte: „Die meistabonnierte Geschichte der vergangenen Wochen war ein Interview meines Kultur- Kollegen Nils Markwardt mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler zur Ukraine. Das hat uns eher überrascht.“

 

Ein verzerrtes Bild?

Wir sollten auch über die Rolle der Medien diskutieren. Besteht ihre Rolle nur darin, Informationen zu sammeln oder sollten sie auch schauen, was nicht so gut läuft? Und dass dann auch reflektieren, um herauszufinden, welche Diskurse in der Gesellschaft stattfinden müssen?

Karl Schlögel, der Osteuropahistoriker ist, hat das Buch “Entscheidung in Kiew” geschrieben. Diese Buch wurde jetzt sehr bekannt. Er hat sehr deutlich vor einem russischen Angriff gewarnt. Warum haben wir nichts davon gehört oder gelesen? 

Ist es, weil viele Medienhäuser aus finanziellen Gründen wenig Auslandskorrespondent*innen haben? Warum arbeiten die deutschen Medien nicht mit ausländischen lokalen Journalist*innen zusammen? Weil das keine guten Journalist*innen sind? Oder weil sie nur den deutschen Journalist*innen glauben? Weil die ausländischen Journalist*innen sehr emotional und nicht neutral sind, weil sie über ihr eigenes Land berichten? Wer sagt denn, dass deutsche Journalist*innen neutral sind? Sie berichten auch auf dem Hintergrund ihrer Vorurteile und ihrer Meinung. Sie berichten über das Weinen von älteren Frauen, vergessen aber, ein paar Interviews mit Intellektuellen dieses Landes zu machen.

Und noch eine Sache: Viele Deutsche haben keine Ahnung von der Innenpolitik Russlands oder der Ukraine. Und hier stellt sich die Frage, warum das so ist. Warum berichten die Medien nicht häufiger über die Innenpolitik über Russland?  

 

Die Frage eines Freundes

Am Ende möchte ich die Frage meines Freundes und Verwandten an mich selbst stellen: “Welche Medien soll ich denn lesen, damit ich die Welt besser verstehen kann und nicht überrascht werde?” Und ich frage, ob wir lieber mehr Fachmagazine abonnieren und lesen sollten, weil die Leitmedien (Print, Digital, Fernsehen, Rundfunk) uns leider nicht die richtigen Bilder, die Entwicklungen und Probleme unserer Gesellschaft und unsere Welt in der richtigen Zeit zeigen können? Oder können die Leitmedien doch von Fachmagazinen lernen, wie sie besser über die Veränderung und Gefahr berichten?

 

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Hussam studierte in Damaskus Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen. Parallel dazu arbeitete er als schreibender Journalist. Seit 2015 lebt er in Deutschland. Er ist Gründer und Chefredakteur von kohero. „Das Magazin nicht nur mein Traum ist, sondern es macht mich aus. Wir sind eine Brücke zwischen unterschiedlichen Kulturen.“

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