„Identitätspolitik“ ─ das erste Mal habe ich diesen Begriff in einem Artikel über eine meiner Lieblingspolitikerinnen gelesen: Alexandra Ocasio Cortez. Die Abgeordnete und Kongressabgeordnete der Demokratischen Partei in den USA, „AOC“ genannt, ist die Frau, die ich sein möchte, wenn ich groß bin. Ja, in meinen Tagträumen sehe ich mich als Kind, das noch Zeit hat, irgendwann in der Zukunft erwachsen zu werden. Auch wenn ich schon 32 Jahre alt bin.
Viele Aspekte der politischen Werte von Ocasio Cortez entsprechen meinen Überzeugungen und all dem, wovon ich in der Welt der Politik träume. Sie ist eine New Yorkerin aus der Arbeiterklasse – stark, mutig und entschlossen tritt sie auf. Eine Aktivistin, die Themen anpackt, die sie aus erster Hand kennt. Sie hat einen puertoricanischen Hintergrund. Sie spricht Spanisch und wuchs in der Bronx auf, einem Bezirk, der hauptsächlich aus migrantischen Gemeinschaften besteht. Ihre politische Arbeit basiert auf einer progressiven Plattform. Diese zielt darauf ab, ein für alle zugängliches Gesundheitssystem zu schaffen und Arbeitsgesetze sowie den Zugang zu höherer Bildung zu verbessern. AOC kritisiert furchtlos die Kriminalisierung von Migranten und fordert die Abschaffung der US-Einwanderungs- und Zollbehörden. Sie ist dafür bekannt, sich für die Rechte der LGBTIQ-Gemeinschaft einzusetzen und hat einen „New Green Deal“ entworfen, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen.
Differenzierter sprechen lernen
In besagtem Artikel wurde Ocasio Cortez vorgeworfen, Identitätspolitik zu ihrem Vorteil zu nutzen. Der*die Autor*in, der*die unter dem Namen „revolutionäre Ideen“[1] veröffentlichte, behauptete, sie nutze ihre Identität und Herkunft, um die Unterstützung von Latinx[2]-Wähler*innen zu gewinnen. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, woher diese Annahme kommt. Das Konzept der Identitätspolitik wird in vielen Diskussionen ungenau verwendet. Der Definition wird nie so viel Bedeutung beigemessen wie der Frage nach dem Warum der Verwendung.
Anhänger*innen der Rechten und sogar Menschen des linken politischen Spektrums argumentieren oft, dass Identitätspolitik eine „egoistische“ und gespaltene Gesellschaft schaffe, in der jede*r nur auf seine*ihre Interessen achten würde. Für Leser*innen, die zum ersten Mal mit dem Konzept der Identitätspolitik in Berührung kommen, mag dies eine berechtigte Sorge sein. Wenn jede*r eine*n Kandidat*in wählt, dessen Identität der eigenen am ähnlichsten ist, bedeutet das dann, dass dies auf lange Sicht eine polarisierende Wirkung auf die Politik des Landes haben wird? Nein, nicht wirklich – wir müssen aber differenzierter über dieses Konzept sprechen.
Identitätspolitik (neu) definieren
Laut dem Cambridge Dictionary kann Identitätspolitik definiert werden als „politische Überzeugungen und Systeme, die der Gruppe, der sich die Menschen zugehörig fühlen, große Bedeutung beimessen, insbesondere in Bezug auf ihre Rasse, ihr Geschlecht oder ihre sexuelle Orientierung“. Es ist nicht einfach, eine genaue und objektive Beschreibung des Konzepts zu finden. Je nach Kontext wird Identitätspolitik oft so interpretiert, dass eine Gruppe sich selbst gegenüber einer anderen bevorzugt. Rechtsgerichtete Parteien nutzen diese Interpretation im Allgemeinen, um Politiker*innen anzuprangern, die eine bessere Vertretung der Gruppen anstreben, denen sie angehören. Rechte Parteien, wie die AfD, haben jedoch eine Zielgruppe, die sie öffentlich gegenüber anderen bevorzugen. Sie profitieren von einer Version der „deutschen Identität“, die ihre Wähler*innenschaft anspricht.
Man braucht nur an einem AfD-Plakat vorbeizugehen, um sich zu erinnern, an wen sich ihre Werbung richtet. Während ich mich vielleicht nicht zugehörig (oder gar diskriminiert) fühle, kann ich mir die Emotionen vorstellen, die sie bei den durchschnittlichen weißen konservativen Wähler*innen mittleren Alters auslösen. Bei den Menschen also, die an die auf ihren Plakaten dargestellte „deutsche Identität“ glauben. Identitätspolitik wurde von rechten und konservativen Parteien bereits ausgiebig genutzt, lange bevor das Konzept zu einem viel diskutierten Thema wurde. Doch wenn marginalisierte Gemeinschaften politischen Einfluss suchen, indem sie für Kandidat*innen stimmen, mit denen sie sich identifizieren, wird ihnen vorgeworfen, die Einheit zu gefährden.
Vielfalt und Verschiedenheit der Interessen gleichermaßen vertreten
Während meiner Recherche stieß ich auf ein Interview mit der politischen Aktivistin und Gründerin des Center for International Justice (CIJ) in Berlin, Dr. Emilia Roig, die sich gegen Diskriminierung und Rassismus einsetzt. In ihrem Interview mit dem BR Puzzle Kulturmagazin erklärt sie, dass es bei Identitätspolitik darum geht, „die Vielfalt und Verschiedenheit der Interessen gleichermaßen zu vertreten“[3]. Laut Roig steht das Konzept für den Kampf um ein politisches System, in dem die Bedürfnisse und Anliegen der Menschen, die in den Hintergrund gedrängt wurden, sichtbar werden. Infolgedessen kann es marginalisierte Gemeinschaften in mehrfacher Hinsicht begünstigen.
Menschen aus diesen Gemeinschaften, die politische Ämter bekleiden, haben mit größerer Wahrscheinlichkeit persönliche Erfahrungen mit Ungleichheit und Diskriminierung. Ihre Erfahrungen mit diesen Themen können dazu beitragen, den Weg für eine Politik zu ebnen, die sich nicht nur an eine privilegierte Gruppe von Menschen wendet. Ein weiterer Vorteil ist die Repräsentation. Vertreter*innen in öffentlichen Ämtern zu haben, ist für das kollektive Selbstwertgefühl einer Gruppe wesentlich und für die politische Ermächtigung unerlässlich. Die Definition von Roig zeigt also, warum Identitätspolitik auch als etwas Positives und sogar Notwendiges im Kampf für Gleichberechtigung interpretiert werden kann.
Jede Definition kritisch betrachten
Es ist von entscheidender Bedeutung, jede Definition dieses Konzepts kritisch zu betrachten. Ganz gleich, ob wir sie in einem Artikel lesen oder in einer politischen Debatte hören. Vor allem, wenn sie dazu verwendet wird, die Stimmen von Menschen zu untergraben, die sich für ein vielfältigeres politisches System einsetzen.
Roigs Definition brachte mich zurück zu Ocasio Cortez und den Gründen, warum ich ihren politischen Weg bewundere. Menschen, die Identitätspolitik in Frage stellen, könnten sagen, dass der Teil ihrer politischen Persönlichkeit, der mich am meisten inspiriert, die Gemeinsamkeiten sind, die wir teilen. Und dass dies der Grund ist, warum ich ihre politische Haltung unterstütze. Damit haben sie vielleicht nicht ganz unrecht.
„Ich möchte mehr Schwarze, Indigene und People of Color im deutschen Kabinett“
Ohne zu viele Aspekte ihres persönlichen Lebens zu kennen, gebe ich zu, dass ich mich von ihrer persönlichen Geschichte angezogen fühle. Ich kann mich mit ihrem Kampf identifizieren und verstehe die Hindernisse, die sie überwinden musste, um ihre Ziele zu erreichen. Aber zu behaupten, dies sei der einzige Grund, warum ich eine*n Kandidat*innen unterstützen würde, ist reduktiv. Und auch ein wenig herablassend. Nicht jede*r Kandidat*in einer marginalisierten Gruppe kann alle Facetten der Gemeinschaft repräsentieren, aus der er*sie kommt. Auch stimmen die Werte von Ocasio Cortez nicht mit denen aller Menschen der Latinx-Gemeinschaft überein.
In ihrem Wahlkampfvideo fassen ihre Worte zusammen, worum es meiner Meinung nach bei der Identitätspolitik geht: „Es ist ein Unterschied, ob jemand sagt: ‚Wählt mich, ich bin Latina‘ oder ob er*sie sagt: ‚Latinos verdienen eine gleichberechtigte Vertretung und einen Platz am Tisch‘“[4].
Es geht nicht nur um eine Gruppe oder eine Identität
Gerade vor dem Hintergrund der Bundestagswahl wünsche ich mir eine Kandidat*in wie AOC. Ich möchte mehr Schwarze, Indigene und People of Color im deutschen Kabinett sehen, die die spezifischen Probleme von Migrant*innen in diesem Land verstehen. Wir brauchen einen potenzielle*n Kanzler*in, der*die sich mit den Themen Asyl und Integration beschäftigt. Und der*die aus erster Hand weiß, was es heißt, diskriminiert und übergangen zu werden.
Darüber hinaus erwarte ich von politischen Vertreter*innen, die gleiche Empathie und Bereitschaft für die Interessen der LGBTIQ-Gemeinschaft, von Menschen mit Behinderungen, Sexarbeiter*innen und einer langen Liste von entrechteten Gruppen, denen ich nicht direkt angehöre. Es geht nicht nur um eine Person, eine Gruppe oder eine Identität. Wir alle brauchen und verdienen mehr Vertretung, mehr Sitze am Tisch. Ich hoffe, dieser Traum wird eher früher als später wahr.
Übersetzt aus dem Englischen von Luisa Stühlmeyer
Quellen:
[1] Alexandria Ocasio-Cortez: Fetishizing “Identity Politics” can pay big, at times, Revolutionary Ideas, Medium. Stand: 27.06.2018
[2] Latinx ist ein genderneutraler Begriff, der auf Menschen aus Lateinamerika oder. Das “x” ersetzt das “o/a” amm Ende der gegenderten Form Latina und Latino.
[3] Über Privilegien und Identität, mit Politologin Dr. Emilia Roig, von Andreas Krieger
Stand: 17.05.2021, br.de
[4] Alexandria Ocasio-Cortez Could Be The First Latina to Represent Her District in Congress
Stand: Jun 19, 2018, youtube.com
Diesen Artikel wurde am 9.9 auf Englisch veröffentlicht / nach der Bundestagswahl lektoriert und minimal überarbeitet von Susanne Brandt.