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„Die Taliban haben Afghanistan übernommen und sie werden bleiben“

Homayoon Pardis ist 2015 aus Afghanistan geflüchtet. Im Interview spricht er über die aktuelle Situation in seinem Heimatland, die schlimmer ist, als zum Zeitpunkt seiner Flucht. Homayoon reflektiert, wie es überhaupt zur Machtübernahme der Taliban kommen konnte und welche Einfluss die internationale Politik und die NATO dabei hatten.

Homayoon Pardis kommt aus Afghanistan und hat Bildungswissenschaften studiert. Im November 2015 ist er nach Deutschland geflüchtet und lebt seit einigen Jahren mit seiner Familie in Hamburg. Derzeit arbeitet er als Projektleiter bei m_Power Frame im Eidelstedter Bürgerhaus und als Teamleiter bei der Organisation MITmacher, die Geflüchtete und Migrant*innen in ein ehrenamtliches Engagement vermitteln.

Du bist vor sechs Jahren aus deiner Heimat Afghanistan geflüchtet. Wie war die Situation damals in Afghanistan, die dich zu dieser Entscheidung veranlasst hat?

Wenn ich es jetzt vergleiche, war es in Afghanistan damals besser als heute. Jetzt sind die Taliban im ganzen Land tätig, früher waren sie nur in den Dörfern und Distrikten. Wir konnten zumindest in den Städten arbeiten. Ich habe bei der IOM-Organisation gearbeitet und wir mussten manchmal in die Distrikte fahren. Wir wollten die Menschen dort unterstützen, dass sie nicht mit den Taliban, sondern für den Staat arbeiten.

Aber dort waren die Taliban damals eben sehr aktiv. Zum Beispiel in Herat war die Situation besonders schlimm. Es gab Entführungen und insgesamt war die Sicherheit stark gefährdet.


Du hast gerade schon gesagt, dass die Lage in Afghanistan heute schlimmer als 2015 ist. Wie war deine Reaktion auf die Nachricht, dass die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen haben?

Ich glaube, es waren nur zwei, drei Wochen, in denen die Taliban das gesamte Land übernommen haben. Das war sehr, sehr überraschend. Das haben wir alle ehrlich gesagt nicht erwartet. Die Taliban waren eigentlich keine so große Gruppe in Afghanistan und hatten auch nicht so viel Macht, dass sie die gesamte Armee in wenigen Tagen vernichten könnten. Wie das passieren konnte, verstehe ich nicht oder welche Deals in der Politik abgelaufen sind. Irgendwoher muss diese große Macht der Taliban kommen.

Deine Familie ist noch in Afghanistan, dein Bruder zum Beispiel in Kabul. Wie ist die Situation derzeit vor Ort?

Viele Leute haben Angst, weil sie sehr schlechte Erfahrung mit den Taliban gemacht haben. Das betrifft ganz viele Themen: Was passiert mit den Frauen und Kindern, Medien, Social Media, Freiheit, Musik, Kunst. Was passiert mit allem, was wir uns in den letzten 20 Jahren erarbeitet haben? Das alles sind Sorgen von uns. Außerdem weiß niemand, was noch passiert. Es ist nicht sicher, ob es noch zu einem Krieg kommt.

Hast du als Afghane, der nach Deutschland geflüchtet ist, Forderungen an die deutsche Regierung oder die NATO?

Natürlich müssen die Menschen, die jetzt besonders in Gefahr sind, aus Afghanistan rausgeholt werden. Das sind Journalist*innen, Künstler*innen, Frauen und die Menschen, die mit internationalen Organisationen zusammengearbeitet haben. Ich weiß nicht, wie viele die NATO, EU, USA oder Kanada rausholen können.

Ich bin der Meinung, die NATO sollte herausfinden, wer die Taliban sind, woher sie Waffen, Geld und besonders Macht bekommen. Die NATO weiß sicher mehr, als sie nach außen zeigen. Sie soll mit der afghanischen Regierung zusammenarbeiten, damit Afghanistan nicht das zweite Syrien wird. Denn das ist gerade die große Angst der Menschen vor Ort. Viele fordern auch, dass die NATO bei Verhandlungen mit Pakistan unterstützen soll, weil sie die Taliban höchstwahrscheinlich unterstützen.

Glaubst du daran, dass sich die Lage dadurch wieder verbessern könnte?

Ich bin sehr, sehr pessimistisch, weil man bei den Taliban nichts Positives erwarten kann. Es werden noch schlimme Sachen passieren, aber ich hoffe, dass es keinen Krieg geben wird. Dass die Taliban wieder verschwinden werden, glaube ich erstmal nicht. Sie haben ganz Afghanistan übernommen und sie werden bleiben.

Du konntest fliehen, bevor sich die Lage so stark verschlimmert hat. Wie geht ihr, geflüchtete Afghan*innen, mit der aktuellen, verschärften Situation in eurer Heimat um?

Ich arbeite gerade in einem Projekt mit zwei Flüchtlingsunterkünften. Wir denken zurzeit viel darüber nach, was wir jetzt machen können. Am Anfang wollten wir Geld sammeln und den Menschen schicken, die aus einer anderen Provinz nach Kabul gekommen sind. Das wäre aber auch nur eine Kleinigkeit. Außerdem habe ich einige Menschen aus Afghanistan beim Auswärtigen Amt angemeldet.

Wir gehen außerdem auf Demos. Weltweit haben Menschen vor den pakistanischen Botschaften demonstriert, aber das hat auch nichts gebracht. Nie, niemals habe ich gesehen, dass Politiker*innen aus Europa oder den USA wirklich etwas tun, um das Leid zu beenden. Afghan*innen fordern, dass mit der pakistanischen Regierung gesprochen wird, aber nichts passiert.

Du klingst sehr enttäuscht von der internationalen Politik und der NATO.

Auf jeden Fall, zu 100 Prozent. Die NATO wusste alles und hätte sicher etwas machen können und kann es jetzt bestimmt auch noch. Warum spricht niemand mit Pakistan? Mit den Taliban brauchen sie es nicht versuchen. Wenn die USA angeblich die größte Macht dieser Welt sind, warum können sie nichts gegen eine kleine Gruppe in Afghanistan tun? Ganz ehrlich, wenn die Taliban merken, dass die NATO und die Regierungen nichts gegen sie ausrichten können, dann werden sie auch in andere Länder kommen.

Joe Biden hat in der Rede an die Nation zum Ende des Einsatzes in Afghanistan gesagt, dass das amerikanische Militär 300.000 afghanische Soldat*innen ausgebildet und auch mit Rüstung versorgt habe. Das sei genug gewesen, um den Taliban standhalten zu können. Wie hast du das, auch damals noch vor Ort, erlebt?

Das afghanische Militär hat richtig gekämpft. Wir Afghanen wissen das. Viele unserer jungen Soldaten wurden wegen des schlechten Deals der USA von den Taliban getötet. Viele Kinder haben jetzt keinen Vater mehr, weil diese in den Kämpfen starben. Ich glaube, dass unsere Soldaten gut gekämpft haben.

Die letzten 20 Jahre haben nichts gebracht. Zwischendurch war es okay, zum Beispiel bezüglich der Frauenrechte oder Freiheit, aber jetzt ist es wie 2001. Die USA hätten es anders machen müssen, weil nie mit den Menschen in Afghanistan geredet wurde. Wenn aber etwas über ihre Köpfe hinweg, in den Regierungen oder der USA entschieden wird oder mit irgendwelchen Ländern oder Organisationen Deals gemacht werden, haben sie keine Chance. Unsere Armee wurde von den Leuten ganz oben verkauft. Deshalb mussten die Taliban am Ende kaum kämpfen, um das ganze Land einzunehmen.

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Kategorie & Format
Autorengruppe
Natalia ist in den Bereichen (Mode-)Journalismus und Medienkommunikation ausgebildet und hat einen Bachelor in Management und Kommunikation. Derzeit studiert sie Digitalen Journalismus im Master. Besonders gerne schreibt sie über (und mit!) Menschen, erzählt deren Lebensgeschichten und kommentiert gesellschaftliche Themen. Sie leitet die Redaktion und das Schreibtandem von kohero. „Ich arbeite bei kohero, weil ich es wichtig finde, dass die Geschichten von Geflüchteten erzählt werden – für mehr Toleranz und ein Miteinander auf Augenhöhe.“     (Bild: Tim Hoppe, HMS)

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