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Die weiße Blume

Die weiße Blume - entdeckt zwischen Bahngleisen. Eine Heimat? Eine Sehnsucht? Greifbar noch immer? Mit Poesie und Erinnerungen an das Vertraute und Verlorene erzählt Sorour Keramatboroujeni in ihrer Geschichte davon.

Die weiße Blume

Ich schlich mich heimlich in die Küche. Ich war zehn. Meine Mutter kochte. Ich war noch nie so leise gewesen wie damals. Dann rief sie meinen Namen mit ihrer netten, mütterlichen Stimme. „Wie hast du verstanden, dass ich es bin, Mama?“ Sie sagte: „Eine Mutter kann ihr Kind immer erkennen, auch wenn es leise und unsichtbar ist.“

Es ist jetzt neun Jahre her. Letzte Woche lief ich auf der Straße nach Hause. Meine Mutter war erst hinter mir und dann lief sie an mir vorbei, ohne auf mich zu reagieren. Ich erinnerte mich an meine Kindheit. Wie kann das sein, dass sie mich auf der Straße nicht erkannte? Sie gab mir dasselbe Gefühl, das ich ständig von den anderen bekomme. Man erkennt mich nicht; man erinnert sich nicht an mich.

Genau wie Shiva. Vor fünf Jahren, im Iran, waren wir beste Freundinnen. Ich glaube, sie wird sich nie wieder bei mir melden. Das macht mich ängstlich. Vielleicht bin ich nach diesen vier Jahren in Deutschland so anders, dass sie sich bei mir langweilt. Doch ich vermisse sie. Sie soll wieder an mich denken und meine weiße Blume sein, die zwischen den Bahnschienen gewachsen ist.

Ach, du weiße Blume, du bist so schön. Züge fahren über deinen Leib und du erträgst den Druck, den der Wind des Zuges mit sich bringt. Du brichst nicht zusammen. Du schöne weiße Blume. Sei meine Heimat! Sei ein Haus für diese verlassene Nacktschnecke und rette sie vor dem Sturm und Regen der Einsamkeit!

Du weiße Blume, als ich dich zum ersten Mal sah, standst du so brav und mutig zwischen den stählernen Schienen. Es war kalt, ich kauerte mich zusammen und du warst alles, was ich wollte. Ich kam zu dir nach unten und schaute auf deine weißen Blütenblätter, auf deinen gelben Bauch. Ich war der glücklichste Mensch auf der Erde.

Dann verabschiedete ich mich von dir und kam wieder hoch. Ein Bahnpolizist wartete auf mich. Die Welt war sauer, dass ihre Bahn meinetwegen zehn Minuten zu spät war. Vielleicht hätte ich jene zehn Minuten arbeiten müssen, damit man sie nicht verschwendet nennt. Oder hätte ich vielleicht zehn Minuten Deutsch lernen müssen, um mich zehn Minuten früher in Deutschland integrieren zu können?

Zwei Jahre späte landete ich wieder an denselben Gleisen mit einem Herz, geleert von allen möglichen Gefühlen. Mein Kopf beherrschte die deutsche Sprache mit zehn Minuten Verspätung und suchte die weiße Blume. Ich näherte mich den Treppen zu den Schienen. Mit jedem Schritt verließ mich das Gefühl meiner Organe ein wenig mehr. Mein Handy klingelte plötzlich.

„Hallo?“ „Hi. Ich wollte am Freitag zur Uni für die Beratung über die Studiengänge und dachte, vielleicht magst du mitkommen.“ „Ja, ich komme mit dir.“ „Super. Ich melde dich gleich an. Ciao.“ „Ciao.“ Ich lies mein Handy in die Tasche fallen und sah zu den Bahnschienen. Es gab dort keine weiße Blume. Es gab einen Menschen, der an mich dachte.

Die Bahn kam. Ich stieg ein. Ein großer weißer Mann schubste mich zur Seite und sah mich verdrossen an. Ich beherrschte die deutsche Sprache mit zehn Minuten Verspätung und sagte ihm nichts, fühlte mich nur noch dunkler und zerbrechlicher als zuvor. Ich überlegte mir, ob es nicht gut wäre, mir ein Kopftuch zu besorgen. Damit könnte ich die schwarze Magie meiner Haare verstecken. Vielleicht würde mich dann der Rassismus in der Öffentlichkeit nicht verbrennen.

Ein paar Minuten später vergaß ich ihn und dachte über die Uni nach. In Deutschland gibt es so viele Möglichkeiten für mich, dass ich mich schwer entscheiden kann. Ich dachte, ich werde eine Universität besuchen. Denn auf dem Tisch eines Profs, am Fenster einer Bibliothek oder zwischen den Schienen einer Bahn, die mich dahinfährt, ist vielleicht eine weiße Blume gewachsen.

Diese Geschichte wurde mit Natalia Grote in Schreibtandem geschrieben.

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foto: Sharon McCutcheon on Unsplash

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Kategorie & Format
Autorengruppe
Sorour-Keramat
Sorour war 16 als sie in Deutschland ankam. Die ersten zwei Jahre in Deutschland wohnte sie in mehreren Flüchtlingsunterkünften. Dort beobachtete sie das Unglück anderer Flüchtlinge, die aus verschiedenen Ecken dieser Welt in Deutschland Schutz suchten. Dass die anderen Menschen genau wie sie unter Heimatlosigkeit leiden und jeden Tag ein Stück von ihrer Identität verlieren, versetzte sie in tiefe Melancholie. Sie sah, wie schamlos Deutschland und andere europäischen Länder die Asylsuchenden abschieben und durch Europa treiben. Alle Herausforderungen, die die Geflüchteten in Deutschland und auf der Flucht haben, tragen dazu bei, dass sie heute Literatur als eine Form des Ausdrucks nutzt, um über das ganze Elend zu berichten.

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