Unter einem Dach: Vom Zusammenleben

Wie komme ich dazu - gerade in Deutschland angekommen - schon ein Buch zu veröffentlichen? Selbst für einen Deutschen wäre es nach acht Semestern Studium der Mathematik, erst 24 Jahre alt, ungewöhnlich, schriftstellerisch aufzutreten.

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Ursache ist der Krieg in Syrien, meine Flucht ins friedliche Europa, wo ich im Frühjahr 2015 in einem sächsischen Dorf ankam. Ich stellte einen Antrag auf Asyl und wartete in einem Flüchtlingsheim 10 Monate, bis meinem Antrag stattgegeben wurde.

Nach meiner Anerkennung als Flüchtling hatte ich ein Riesenglück: oben im Norden nahe Hamburg lebt eine Familie, die sich entschlossen hatte, einen Flüchtling bei sich zu Hause aufzunehmen.

Und ausgerechnet mich wählten Nicole und Henning Sussebach aus! Das war im Dezember 2015. Die Beiden, sowie ihre zwei Kinder, kümmerten sich beständig um mich. Und zeigten mir natürlich auch die wunderschöne Umgebung ihres Hauses mit den Feldern, den Seen und Wäldchen.

Auf einer Fahrradtour mit Henning sagte ich voll Begeisterung: „In 10 Jahren, wenn ich sehr gut Deutsch kann, müssen wir über das jetzt Erlebte ein Buch schreiben.“ Darauf erwiderte mein Gastvater, der in Hamburg als Journalist arbeitet: „Warum erst in 10 Jahren? Jetzt ist Deine Erinnerung frisch. Schreib sie auf, und ich schreibe aus meiner Sicht genau wie Du über unser Zusammenleben. Wir machen ein gemeinsames Buch.“

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Henning schrieb auf Deutsch, ich auf Arabisch. Wie zum Beispiel über Kleidung, haben Henning und ich in unserem Buch über vieles geschrieben: Über unsere unterschiedlichen Meinungen zur Religion etwa, über Kindererziehung, syrisches und deutsches Essen, deutsche und syrische Frauen … aber lest selbst!

„Hennings Familie wunderte sich über mich – ich wunderte mich über sie. Zum Beispiel waren Nicole und Henning zu einem Geburtstag bei Freunden eingeladen. Nicole hatte sich elegant zurechtgemacht, während Henning in seiner normalen Arbeitskleidung dasaß und keinerlei Anstalten unternahm, es ihr gleichzutun. „Gehst Du so zur Feier?“, fragte ich ihn. Er antwortete einfach: „Ja.“

Ich war schockiert, weil ich es aus meiner Heimat vollkommen anders gewohnt bin. Sobald ich nach Hause komme, ziehe ich mir meine Hauskleidung an. Bevor ich die Wohnung verlasse, kleide ich mich zum Einkaufen, für die Schule, zum Besuch der Moschee oder einer Feier jeweils anders, so wie ich es für angemessen halte. Meine Vorstellungen von der europäischen Kultur wurden von Henning mit seiner Einheitskleidung für sämtliche Gelegenheiten und Anlässe arg enttäuscht.

Deutsche Freunde sagten mir: „Wir leben heute nicht mehr im Rokoko. Seitdem die 68er Protestbewegung gegen jede Kleiderordnung anging, sowie in Hessen der Staatsminister für Umwelt und Energie zur Vereidigung in Turnschuhen antrat, sehen wir das nicht mehr so eng. Jeder soll sich in seiner Kleidung wohlfühlen. Schließlich kommt es auf die ‚inneren Werte‘ an.“

(Auszug aus dem Buch „Unter einem Dach“)

Mein Aufenthalt hier in Deutschland hat mein Denken stark verändert, weil ich ständig gezwungen bin, selbständig Entscheidungen zu treffen. Mir kann sonstwer erklären, ich müsse dies oder jenes tun – ich tue das, was ich für richtig halte. Ich denke, das ist der Kern von „Verantwortung übernehmen“, „Verantwortung tragen“. Die trägt ja nicht derjenige, der von mir verlangt, etwas zu tun.

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